Das Kanalsystem der Stadt, mein Fachgebiet, stellt ihr Ausscheidungsorgan dar. Durch ihre tief in der Erde verborgenen Gedärme fließt schon lange kein Abwasser mehr. Deshalb stinkt es hier auch nicht, wie manche vielleicht meinen, die angesichts meiner Aufgabe die Nase rümpfen. Ich bin nicht sehr angesehen unter meinen Leuten, ich weiß. Aber ich nehme meine Aufgabe ernst und gebe mein Bestes.
Es ist immer dasselbe. Nach einem langen Fußmarsch sind wir plötzlich da, der ganze Trupp. Uns bietet sich kein Widerstand – von Schlingpflanzen und einsturzgefährdeten Bauten abgesehen. Wir fallen lärmend in die meist totenstill daliegende Stadt ein, erreichen ihr Zentrum, verteilen uns vor dort aus, jeder mit seiner persönlichen Aufgabe betraut. Wenige Stunden später sammeln wir uns wieder auf dem Hauptplatz, und schon wenig später liegt die verfallene Stadt wieder tot da, und es ist, als seien wir nie dort gewesen.
Einem lebenden Körper muss Luft und Nahrung zugeführt werden. Nervenbahnen, Adern und ein Lymphsystem durchziehen ihn. Die Nahrung wird verdaut und Energie wird produziert, die in Tätigkeiten und Kommunikation umgesetzt wird. Ein Immunsystem und verschiedene Reparaturmechanismen wehren Feinde ab und halten Verfall, Verschleiß und unkontrollierten Wildwuchs auf, wo immer und wie lange das eben möglich ist.
All dies galt auch für die großen Städte. Wir haben uns, in Anlehnung an Heiler, die damals mit den verschiedenen Organen und Systemen im menschlichen Metabolismus betraut waren, Namen gegeben, Spitznamen, die sich auf unser jeweiliges Spezialgebiet beziehen. Ich bin der »Proktologe«.
Die alten Städte gelten als verfluchte Orte, und ein wenig färbt das auf uns, die Totenbeschauer, ab. Wir sind Ausgestoßene, und es heißt, wir stehen mit Dämonen im Bunde. Deshalb sind wir gezwungen, unter uns zu bleiben. Manchmal rauben wir Frauen. Auch ich komme langsam in das Alter, in dem ich eine Familie gründen sollte. Ich habe mein Auge auf die »Neurologin« geworfen. Aber wie soll ich ihr imponieren? Ich müsste dafür einen bedeutenden Fund machen. Doch was lässt sich hier in den Abwässerkanälen schon entdecken?
Wir suchen besondere Artefakte, Dinge, deren Bedeutung wir nicht kennen, Gegenstände, deren Sinn für uns im Dunkeln liegt. Aus jeder Stadt nehmen wir nur ein einziges dieser Objekte mit und schaffen es, oft auf gefahrvollen Wegen und unter großen Mühen, zurück in unsere Festung. Dort haben wir im Berg ein riesiges unterirdisches Museum angelegt, in dem diese Dinge, beschriftet jeweils mit der Stadt, aus der sie stammen, ausgestellt werden – und niemand außer uns weiß davon.
Auch wenn alle anderen uns für Plünderer halten und mit schlimmen Schimpfworten belegen: Eigentlich sind wir Bewahrer und haben eine große Hochachtung vor den toten Städten und ihren einstigen Bewohnern, den Schöpfern all dieser ebenso wunderbaren wie rätselhaften Gerätschaften, die unsere Expeditionen zutage fördern.
Ich laufe jetzt schon viele Stunden lang durch die Kanäle. Es wird Zeit für mich, zurückzukehren. Mein untrüglicher Orientierungssinn ist der Grund dafür, dass mir die Aufgabe zufällt, die Abflüsse und Katakomben der toten Städte zu durchstreifen. Noch nie habe ich mich verirrt, und selbst wenn meine Fackel verlöschen sollte, würde ich zurückfinden.
Da! Ich entdecke etwas im flackernden Licht, dass ich auf dem Hinweg übersehen haben muss. Es ist ein Metallgestänge, das an einer Seite eine Art Haltegriff aus dem einem der künstlichen Stoffe der Damaligen besitzt: Er ist schwarz, nachgiebig und fühlt sich angenehm an, fast so, wie ich mir die Haut einer Frau vorstelle. Ich richte das Gestänge auf, so dass es mit zwei kurzen Querstangen fest auf dem Boden steht – ähnlich wie bei einem der rädergetriebenen Gefährte, welche die Damaligen mit Pedalen angetrieben haben. Nur gibt es hier weder Räder noch einen Sattel. Dennoch sieht das Gerät aus, als könne man es besteigen: Unten befinden sich, nebeneinander befestigt, zwei Plattformen, etwas größer als meine Füße. Offenbar kann man hinaufsteigen, während am sich an dem hochragenden Griff festhält, um darauf zu stehen. Ich bin aufgeregt, denn so etwas habe ich noch nie gesehen. Ist es gefährlich? Todesmutig steige ich auf die zwei Trittbretter. Vor Schreck stockt mir kurz der Atem: Sie bewegen sich – das eine kippt weg, und gleichzeitig drückt es das andere nach oben. Das Gestänge knirscht. Nun belaste ich den Fuß, der hochgedrückt wurde, und seine Plattform senkt sich langsam und schwergängig, während nun der andere Fuß nach oben schwingt.
Ich kann auf dem Gerät laufen, auf der Stelle laufen! Eigenartig. Und ein guter Fund. Denn der Sinn dieser Vorrichtung ist mir völlig schleierhaft.
Sie ist schwer. Ich schultere sie und mache mich auf den Weg zu unserem Treffpunkt. Es macht mich stolz, einmal etwas von meinen Streifzügen mitbringen zu können.
Unser Ältester begutachtet die Fundstücke. Lange bleibt er vor meinem Artefakt stehen. Dann bedeutet er mir, es vorzuführen. Ich steige auf die Plattformen und bewege sie langsam mit den Füßen, indem ich mein Gewicht verlagere. Es knirscht, als ich beginne, auf der Stelle zu laufen, so als ob ich eine Treppe hinaufsteigen würde. Ich höre ein Raunen von den anderen, aber habe nur Augen für die Neurologin, die mich und das Gerät mit erstaunten Blicken bedenkt – und lächelt, als der Älteste seine Wahl trifft. Sie lächelt mich an! Ich steige ab und fühle mich, als würde ich schweben.
Unser Ältester fertigt in der toten Sprache und Schrift eine kleine Tafel an, die ich an meinem Fund befestigen darf. »Berlin«. Wir brechen wir auf. Die Neurologin hilft mir, das Artefakt zu tragen. Am Tuscheln der anderen bemerke ich, dass ihnen nicht verborgen geblieben ist, für wen unter uns sie sich entschieden hat. Für den »Proktologen« – wer hätte das gedacht?
Ich jedenfalls trage stolz mit ihr das Gerät, mit dem man auf der Stelle laufen kann. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber ich fühle mich leicht und voller Tatendrang. Ich habe ein Museumsstück gefunden – und eine Gefährtin!
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