Ich senke meine Stimme und lege allen Nachdruck hinein: »Aber gerade das könnte doch eine Spur zum Untergang der Postmoderne sein, verstehst du?!«
»Hm. Nicht schlecht. Da könnte ich was dran aufziehen.« Tom scheint anzubeißen.
»Hybris, weißt du? Postmoderner, narzisstischer Größenwahn. So waren wir damals alle. «
Vielleicht habe ich übertrieben, denn Tom zögert jetzt. Schließlich meint er gedehnt: »Hast du nicht gesagt, du warst … integral.«
»Ja, klar, das ist ja gerade der Größenwahn: zu denken, man könne ganzheitlich-nachhaltig alle Aspekte umfassen und integrieren, Machthierarchien durch Kompetenzhierarchien ablösen, pluridimensional-umfassende Lösungen für die komplexesten Probleme finden, den Werteverfall als neuen Wert hochjubeln. Das musste ja zum Untergang führen, gerade angesichts dessen, was sich da zu meiner Zeit in China entwickelte.«
»In China entwickelte?«
»Na, die Remoderne. Oder schon die Prenaissance. Der Dschiessiebi und die – wie hieß noch die neue Menschenrechts-Charta?«
»J?ngshénrechts-Charta.«
»Ja, Mann, was auch immer das ist: der Untergang der europäischen Postmoderne – steht alles drüber drin im Korridorium. Ich kann dir da jede Menge erzählen.«
»Dann schieß los. Du diktierst, und Bàs Táishì schreibt mit. Aber schön mit Gliederung und Fußnoten, hörst du? Ich leg dann mal meine Füße hoch.«
Hätte Cory das gemacht? Um sein – oder ihr – Leben geredet und alles verraten, die Hoffnung, Sehnsucht, die Erkenntnisse und das Ringen um etwas, für das es sich zu schreiben und zu kämpfen lohnt? Nur um nicht umgehend wieder gelöscht zu werden? So muss sich Scheherzerade gefühlt haben.
»Weißt du, Cory, ich will später einfach nur Tiger nachzüchten.«
»Tiger nachzüchten, tatsächlich?«
»Lässt der Great Chinese Benefactor in Zhongguancun über tausend Forscher dran tüfteln, aber die kriegen’s einfach nicht hin, trotz DNA und allem. Wenn ich das dann schaffe, bin ich ein gemachter Mann. Du ahnst nicht, was die da für Tigerj?bas bezahlen würden. Als Afrosidia ... diasi …«
»Aphrodisiakum.«
»Japp.« Und nach einer kurzen Pause: »Bist doch gar nicht so’n Idiot, wie ich dachte, Cory.«
Und damit beginne ich, ein umfangreiches Referat zu halten über den Untergang der Postmoderne, gespiegelt durch 398 skurrile Kurzprosa-Texte, in deren labyrinthischem Versteckspiel immer wieder die monströse Hybris und der ebenso abscheuliche wie fatale Werte-relativierende Narzissmus aufschimmern, die aber dann letztlich das glorreiche Zeitalter der Remoderne einläuteten und die Prenaissance ermöglichten – und natürlich unseren Großen Kaiserlichen Wohltäter auf dem Drachenthron, den Dschiessiebi.
[Auf viele in dieser Geschichte erwähnten Figuren und Situationen wird im Original-Blog jeweils intern verlinkt. Passwort und Link – und damit den Zugriff auf die »Korridore«, auf die in dieser Story angespielt wird – finden Sie im Nachwort dieses E-Books. Anm. d. Hrsg.]
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14.4.12
Ich betrete den Korridor. Pascals Coq au vin duftet wieder einmal köstlich. Gerade verklingen die zwölf Schläge der Kirchturmuhr. Ich bin ein wenig früh dran und bleibe wartend vor Zimmer Nr. 27 stehen.
»Aber ich habe uns Essen bestellt!«, höre ich hinter der Tür die Stimme von Herrn Koriander, unserem Gast für diese Nacht. Etwas rumpelt. Die Antwort kann ich nicht verstehen. »Oh doch, das können Sie, ich bestehe darauf!«, meint Herr Koriander nachdrücklich. Wieder poltert etwas. »Warten Sie doch bitte wenigstens auf das Essen!«, fleht Herr Koriander. Ich beschließe, auch wenn ich vor Aufregung jetzt bestimmt rot werde, sofort zu servieren. Ich klopfe. Herr Koriander öffnet mir. »Sehen Sie?«, sagt er nach hinten gewandt..
Ein kleiner Mann steht auf dem Bett. Er hat eine Halbglatze und hinten nur wenige weiße Haare, trägt eine Brille und hat ein recht lustiges, rundes Gesicht mit abstehenden Ohren. Wie alt mag er sein? Sechzig Jahre, achtzig Jahre? Schwer zu sagen …
»Oh«, macht er und steigt vom Bett runter. Er inspiziert mein Tablett, und es scheint ihm zu gefallen, was er sieht. Ich serviere ihnen das Essen auf dem Tisch. »Nur Wasser?«, fragt er, als ich das Tafelwasser in zwei Gläser gieße. Er hat einen leichten Akzent, den ich nicht ganz einordnen kann.
»Natürlich«, sagt Herr Koriander. Dann öffnet er sein Notizbuch und fängt, während sein Gast anfängt, das Hähnchen zu zerlegen und es kräftig zu pfeffern, mit seinen Fragen an. Ich trete ein paar Schritte zurück neben das Bett und halte mich bereit, um Wasser nachzuschenken.
Zu Anfang geht es – ich hätte es mir fast denken können – um den Mars. Da sie Deutsch reden, verstehe ich diesmal alles. Und doch kapiere ich so gut wie nichts. »Arlanthropos« scheint der Name für einen Marsmenschen zu sein, der jedoch nur ein Stückchen Gehirn in einer großen Maschine aus Metall ist und keine menschlichen Interessen teilt. Korianders Gast jedoch scheint nicht darüber reden zu wollen und brummt immer wieder missmutig. Er scheint dem Akzent nach irgendwo aus dem Osten zu kommen, Russland vielleicht oder Rumänien. Ich bin mir nicht sicher.
»Wohin ist Golem der Vierzehnte verschwunden?«, möchte Herr Koriander nun wissen, aber sein Gast belehrt ihn, dass es so nicht geht und auf ganz andere Dinge ankomme, auch gerade angesichts der kurzen Zeit.
Herr Koriander scheint ein wenig pikiert. Er presst die Lippen zusammen und schlägt sein Notizbuch zu. Sein Gast lächelt, nimmt es ihm aus der Hand, sieht hinein und sagt »Pirx«. Doch Herr Koriander schüttelt den Kopf. Es gehe ihm um Evolution und um Bewusstsein.
Sein Gast lächelt spitzbübisch und fragt: »In einem kleinen schwarzen Kasten?« Herr Koriander beißt auf seine Lippen und sagt dann: »Trurl«. »Klapauzius«, sagt sein Gast. So verrückt geht das Gespräch der beiden weiter. Irgendwie bekomme ich mit, dass sich der Besucher offenbar eher als andere Gedanken um Künstliche Intelligenz und Nanotechnologie gemacht hat. Eine Zeitlang geht es zwischen den beiden um etwas, das sie »Phantomatik« nennen, dann um eine gewisse bakterielle »Eruntik«. Sie hätten aber auch Altägyptisch reden können, da hätte ich wohl genauso viel verstanden.
Schließlich ist es Zeit, abzuräumen. Herr Koriander scheint ein wenig verzweifelt, als er in seinem Notizbuch die Liste seiner noch gar nicht gestellten Fragen studiert. Sein Gast lacht, und ich höre sein Lachen noch, als ich vor dem Aufzug stehe und die Kirchturmuhr eins schlägt.
[Unter der originalen Blog-Veröffentlichung des obenstehenden Textes gibt es einen externen Link zu Informationen über den Science-Fiction-Autor Stanislaw Lem († 2006). Sämtliche externen Links des Korridoriums finden Sie in der archivierten Version; s. Nachwort. Anm. d. Hrsg.]
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21.4.12
Ich betrete den – Korridor ist hier vielleicht das falsche Wort, da es nahelegt, dieser Gang sei dafür da, dass Menschen ihn benutzen. Das würde ich in diesem Falle zwar gerne glauben, aber tatsächlich ist das bei einem Kanal oder genauer: einem Abwasserkanal nicht der Fall. Es ist ein mannshoher, gemauerter Tunnel, in den von beiden Seiten weitere Kanäle münden – ein Tunnelsystem unter der Stadt.
Ein toter menschlicher Körper mag sich, je nach den äußeren Umständen, in wenigen Wochen oder Monaten zersetzen