Ein Abgesandter des Papstes reitet indessen zum Hofe des Königs. Er meldet die Ankunft des Hohenpriesters, berichtet von Leos Vertreibung aus Rom durch die eigenen Bürger, spricht von den Misshandlungen, die er erduldet, erwähnt auch die Blendung, erzählt wie die Zunge verstümmelt im nassen Munde; jetzt aber, so spricht er, sei Leo durch Gottes Hilfe geheilt und von allem Übel befreit.
Mit Staunen hört das ganze Heer den Bericht, und Karl, der sich jenes Traumes erinnert, erkennt aufgrund des Berichtes, wie wahr das Gesicht seinerzeit gewesen; er zweifelt nicht daran, dass er schon lange zuvor im Traume den Papst schmerzliche Tränen vergießen sah. Er gebietet sogleich, Pippin solle dem großen Hirten entgegenziehen, ihm Frieden und gefälligen Gruß entbieten. […]
Der König, der Vater Europas, und Leo, der oberste Hirte auf Erden, sind zusammengekommen und führen Gespräche über mancherlei Dinge. Karl fragt nach dem Geschehenen und erfährt von den verschiedenen Misshandlungen; staunend hört er von den Freveltaten, hört verwundert von der Zerstörung des Augenlichts und wie Leo die Sehkraft wieder erhalten, erkennt mit Staunen, wie die Zunge des Papstes, die einst von der Zange verstümmelt, nun wieder redet. Die beiden Männer blicken einander fest in die Augen, dann schreiten sie gemeinsam zur Höhe der Pfalz empor. Vor dem Tor des heiligen Tempels stehen die Priester und singen in wechselnden Chören Lobgesänge, bringen Dank und Preis dem Schöpfer dar, der dem Hohenpriester das Augenlicht wieder verliehen und seiner Zunge die Gabe der Rede, die er nicht mehr zu hoffen gewagt. […]“
(Quelle 4. Dieter Schaller, Karl der Große in der Dichtung, Lexikon des Mittelalters 5, Sp. 961 f. datiert das Epos auf die Zeit kurz nach der Kaiserkrönung, Schieffer, Attentat, S. S.79 auf die ersten Jahre nach der Kaiserkrönung. Nach Brunhölzl, De Karolo rege, S. 5, ist es bald nach den Ereignissen von Paderborn im Jahre 799 verfasst worden. Das Repertorium Fontium 3, 132, Das Carmen de Carolo Magno, gibt als Zeitpunkt der Entstehung den Papstbesuch in Paderborn oder kurz danach an http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_00769.html, 2013-08-05, [letzte Änderung der Daten am 06-09-2012 10:51])
Mit geringem Abstand zum Geschehen teilt uns wahrscheinlich Erzbischof Richbod von Trier in den Lorscher Annalen (Annales Laureshamenses) mit, die Römer hätten Leo die Zunge herausschneiden, blenden und töten wollen. Dank göttlicher Vorsehung hätten sie das Begonnene nicht vollenden können. Leo sucht Karl in Paderborn auf, wird ehrenvoll aufgenommen, beschenkt und mit großen Ehren auf seinen Thron zurückgeschickt. Die Gesandten führen den Papst zurück und schicken diejenigen, die seinen Tod beschlossen hatten, zum König. Jetzt sind sie, wie sie es verdient haben, im Exil. (Quelle 5; Zu Abfassungszeit und Autor siehe: Schieffer, Attentat, S.77; Repertorium Fontium 2,296 Annales Laureshamenses http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_00308.html, 2013-08-05 [letzte Änderung der Daten am 06-09-2012 10:51])
Laut Annales Sithienses aus dem 9. Jahrhundert wird Leo geblendet und zu Karl gebracht. (Annales Sithienses ad a. 799, S.36.)
Die Annales sancti Emmerami in Regensburg verzeichnen zu 799: Papst Leo wurde verstümmelt. (S. 93)
Die Annales Northumbrani vetusti sind wesentlich konkreter: Die Römer liegen im Streit miteinander, nehmen Papst Leo gefangen, schneiden ihm die Zunge heraus, blenden ihn, lassen ihn halb tot liegen und kehren in ihre Häuser zurück. Gott hat ihn geheilt. (S. 155. Zu den letztgenannten Quellen siehe Schieffer, Attentat, S. 77 f.)
Vermutlich erst nach Karls des Großen Tod, also nach 814, wurden die Reichsannalen stark überarbeitet. Die ältere Forschung vermutete, das sei Einhards Werk gewesen, doch ist man schon im 19. Jahrhundert davon abgerückt. Trotzdem nennt man sie noch Einhardsannalen, um sie beim Zitieren von den Reichsannalen zu unterscheiden.
Sie ergänzen, der Überfall habe stattgefunden, als der Papst vom Lateran nach der Kirche des Laurentius, die zum Rost heißt, zur Litanei ritt. Man habe ihn vom Pferd gezogen und ihm – wie etliche gesehen haben wollen – die Augen ausgestochen und die Zunge abgeschnitten. Dann habe man ihn nackt und halb tot auf der Straße liegen gelassen. Daraufhin sei er auf Befehl der Anstifter des Überfalls ins Kloster des hl. Erasmus gebracht und zur Pflege der Obhut seines Kammerherrn Albinus anvertraut worden. Mit dessen Hilfe sei ihm die Flucht gelungen. Winigis sei, als er von der Untat hörte, nach Rom geeilt und habe den Papst nach Spoleto geleitet.
Als der König davon Nachricht erhält, befiehlt er, den Stellvertreter Petri mit allen Ehren zu ihm zu bringen, und bricht zum Feldzug gegen die Sachsen auf. Den Papst empfängt er mit allen Ehren in Paderborn. Dieser bleibt dort einige Tage. Nachdem er dem König all das erklärt hatte, weshalb er gekommen war, lässt der ihn durch seine Gesandten nach Rom und auf den Papstthron zurückbringen. (Quelle 6)
Einhard, der Biograf, Karls des Großen, berichtet mit einem Abstand von vielleicht knapp dreißig Jahren: „Seine letzte Reise [nach Rom] hatte nicht darin allein den Grund [dass ihm die Stadt am Herzen lag], sondern sie wurde auch dadurch veranlasst, dass Papst Leo durch die vielen Misshandlungen, die er von Seiten der Römer erlitten hatte, indem sie ihm nämlich die Augen ausrissen und die Zunge abschnitten, sich genötigt sah, den König um Schutz anzuflehen. Er kam also nach Rom und brauchte dort den ganzen Winter, um die Kirche aus der überaus großen Zerrüttung, in die sie verfallen war, zu reißen. Damals war es, dass er die Benennung Kaiser und Augustus erhielt. (Quelle 7)
Einhard, ein besonderer Vertrauter des Kaisers, hat dessen Vita zu einem in der Forschung umstrittenen Zeitpunkt nach Karls des Großen Tod verfasst – die Spanne reicht von kurz nach dessen Tod (McKitterick) bis 833 (Wattenbach-Levison). Er war bestrebt, Karl als idealen Herrscher darzustellen, wobei es ihm nicht darauf ankam, das tatsächliche Geschehen aufzuzeichnen. Er ordnet es seinem Ziel unter, das Bild des Kaisers hell erstrahlen zu lassen. (Zu Einhard, dem Zeitpunkt der Entstehung seiner Biografie, dem Charakter und der Aussagekraft seines Werkes siehe: Wattenbach-Levison, Geschichtsquellen 2, S. 266-278; Kerner, Karl, S. 73-80; Hartmann, Karl, S. 13-16; MCKitterick, Karl, S. 19-32; Tischler, Einhards Vita; dies alles knapp zusammengefasst bei Pauler, Karl der Große, Heiliger Bigamist und Brudermörder, Kapitel: Die wichtigsten Quellen)
Die Nennung dieser wenigen erzählenden Quellen mag genügen, zumal Berufenere wesentlich detailliertere Zusammenstellungen vorgenommen haben. (Padberg, Paderborner Treffen, S.42-47; Schieffer, Das Attentat, passim; Fried, Papst Leo III., S. 285-293; Becher, Die Reise Papst Leos III., S. 87-95) Zwei Versionen des Geschehens werden von den Historiografen vermittelt: In der einen wird der Papst tatsächlich verstümmelt, nach Theodulf und den Lorscher Annalen haben es die Attentäter nur vor, doch gelingt es ihnen wunderbarerweise nicht. Diese Version bietet in etwa der Reinigungseid, den Papst Leo am 23. Dezember 800 vor der römischen Synode geleistet hat. Er schwört, schlechte Menschen hätten sich gegen ihn erhoben und versucht, ihn zu beschädigen (debilitare). (Quelle 8; das Wort debilitare hat mannigfache Bedeutungen, z.B. lähmen, gebrechlich bzw. schwach machen, verkrüppeln oder am Körper beschädigen) Diese unter Eid gemachte Aussage hat allerdings nicht dazu geführt, dass die Geschichtsschreiber bei der Abfassung ihrer Werke nicht doch die erste Version des Überfalls mit vollendeter Blendung und Abschneiden der Zunge bevorzugt hätten. Das verwundert vor allem bei Einhard, der als Vertrauter des Kaisers die beschworene Version des Überfalls eigentlich hätte kennen müssen. Selbst die Einschränkung in den von ihm als Quelle benützten Einhardsannalen bei dem Bericht über die Blendung („wie etliche gesehen haben wollen“) lässt er weg.
Dieses Problem hat schon Rudolf Schieffer thematisiert. (Attentat, S. 84) Er ist der Auffassung, dass bereits in der Papstbiografie die Absicht deutlich wird, „dem in seiner Stellung und Integrität nicht unangefochtenen Papst durch ein von Gott gewirktes Wunder die höchste nur denkbare Legitimation zuteil werden zu lassen, und seit Weihnachten 800 war die Rechtmäßigkeit Leos III. zugleich die Basis des Kaisertums, das er dem großen Frankenkönig verliehen hatte.“ Das Weiterwirken dieser Version in den fränkischen Quellen trotz besseren Wissens war demnach eine „politische Sprachregelung“, an der man festhielt, um keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Kaiserkrönung aufkommen zu lassen.
Die These überzeugt.