Als Gerlach aus dem Haus kam, machte er nicht den Eindruck, sonderlich befangen zu sein. Falls er irgend etwas wegen Linda auf dem Kerbholz hatte, sah man ihm das nicht an. Ganz im Gegenteil: Er strahlte, als hätten wir gerade unsere Verlobungsringe getauscht.
Gerlach war ein Mann in den Fünfzigern mit sportlichem Gang und kurzgeschnittenem Haar, Typ in die Jahre gekommener Tennisspieler. Kein Bauchansatz, keine Tränensäcke. Wenn man nicht trinkt, erfordert das in der Lebensplanung andere Ziele, als nur seinen Unterhalt zu verdienen und auf ein bisschen Karriere scharf zu sein.
Dann hat man nach meiner Erfahrung immer Dinge im Sinn, die etwas aus dem Rahmen fallen, Ersatzdrogen wie Religion, Politik oder wenigstens Töpfern in der Gartenlaube. Wer nichts anderes im Sinn hat, landet unweigerlich beim Alkohol oder in der Klapsmühle.
Anders ausgedrückt: Ich kenne niemanden, der sich auf Dauer damit abgefunden hätte, nur Kellner, Gärtner oder Hausverwalter zu sein, ohne dabei irgendeine Art von Seltsamkeit oder Spleen zu entwickeln. Was das anbelangt, scheinen wir immer aufs Ganze zu gehen.
Gerlach sah so nüchtern aus, als habe er in seinem Leben nicht mal einen heißen Grog angerührt, von stärkeren Drogen ganz zu schweigen – und das bei den Bastionen leerer Champagnerflaschen, die jetzt im Salon standen. Jemandem wie mir, der schon manchem Gauner unter Gottes blauem Himmel in die ehrlichen Augen gesehen hatte, lief bei soviel Nüchternheit ein Schauder über den Rücken.
Er reichte mir seine etwas zu kalte Hand.
"Ist Linda schon da?“, fragte ich eher beiläufig und bekam prompt einen Hustenanfall, als sei ich mehr mit meinem Körper als mit dem Gedanken an Linda beschäftigt.
"Sie meinen Ihre Klientin?"
"Linda Klaus, das Mädchen, mit dem ich schon einmal bei Ihnen war."
"Nein, aber wenn Sie wollen, können Sie gern im Haus auf sie warten?"
"Ja danke, sehr freundlich – sieht nämlich nach Regen aus", sagte ich.
Gerlach folgte meinem ausgestreckten Finger zum Himmel, von dem der Mond ohne jedes Wölkchen sein fahles Licht auf uns herabsandte, bedachte mich mit nachsichtigem Blick (etwa so, wie man jemanden ansieht, der nicht alle Tassen im Schrank hat) und ging dann ohne ein weiteres Wort voraus.
Er öffnete die Haustür mit einem Zentralschlüssel, den er an der goldenen Uhrkette trug, und brachte mich in ein Zimmer, das ich schon von unserem ersten Besuch kannte. Es erinnerte mit seinen Stahlrohrstühlen und den ausgelegten Magazinen an das Wartezimmer eines Arztes. Da Elmond Rechtsanwalt gewesen war, nahm ich an, dass er hier auch manchmal Klienten abgefertigt hatte. Von der Wand über dem Kaminsims lächelte mich das Bild seines Großvater an, wie man auf dem Schild am Silberrahmen lesen konnte. Wenn sich die Elmonds auch nur ein wenig ähnlich sahen, dann musste Robert Elmond eine stattliche Erscheinung gewesen sein, und ich verstand ganz gut, warum er Rosa Vanessa bei seinem ersten Besuch im Eduardo imponiert hatte.
"Sie haben noch Fragen wegen Elmonds Tod?“, fragte Gerlach und reichte mir ein Glas Gin mit wenig Wasser, das er aus dem Nebenraum hereingebracht hatte. Offenbar erinnerte er sich daran, was ich bei unserem ersten Besuch getrunken hatte. Er selbst nippte nur kurz an seinem Mineralwasser und stellte das Glas dann auf die Fensterbank.
"Falls es sich bei der verbrannten Leiche wirklich um Robert Elmond handelt."
"Endgültige Gewissheit darüber würde erst ein Genvergleich mit seinem in Bonn lebenden Sohn Peter Elmond geben. Allerdings waren sich die beiden in letzter Zeit nicht sonderlich grün. Ich glaube kaum, dass er rechtlich zu einem Genvergleich gezwungen werden könnte."
Beim Namen Peter Elmond glaubte ich in Gerlachs Augen für den Bruchteil einer Sekunde etwas von der Wachsamkeit zu entdecken, die mehr als nur höfliches Interesse signalisiert. Man hätte darüber streiten können. Frauen pflegen die Augen für einen Moment leicht aufzureißen, wenn ihnen etwas von Belang (gewöhnlich ein Kerl) in die Quere kommt. Doch ein Mann wie Gerlach verstand es besser, seine Pupillen unter Kontrolle zu halten.
"Aber um ihn beerben zu können, muss man Robert Elmond erst einmal für tot erklären", sagte ich. "Und das geht kaum ohne einen ordentlichen Totenschein."
"Wahrscheinlich möchte sein Sohn lieber nicht in die Schlagzeilen kommen."
"Wegen des Mädchens?“, fragte ich.
"Welches Mädchen?"
"Rosa Vanessa. Die Frau, mit der sein Vater hier zusammengelebt hat."
"Peter Elmond ist Politiker. Die Presse kann einen Mann fertigmachen, selbst wenn er zufällig nichts weiter als der Sohn eines Ermordeten ist."
"Kannte Peter Elmond die Geliebte seines Vaters?"
Gerlach lächelte mich so kalt und ausdruckslos an, als habe er die Eingeweide einer gut geölten Maschine. "Wir wissen nicht, ob sie überhaupt seine Geliebte war, ich selbst habe nur von geschäftlichen Beziehungen gehört. Mag sein, dass sein Sohn ihr irgendwann in diesem Haus begegnet ist, das kann ich nicht mit letzter Gewissheit sagen."
"Und was waren das für geschäftliche Beziehungen?"
"Sie soll Robert dazu überredet haben wollen, einen Vergnügungsklub im Stadtzentrum zu kaufen, um dort Geschäftsführerin zu werden."
"Das Eduardo?
"Ja, ich glaube, so hieß der Klub."
"Und Sie wissen nicht, wer der wirkliche Besitzer des Eduardos ist, nehme ich an?"
"Nein, sollte ich?"
Ich trank einen Schluck von dem Gin mit Wasser, den er mir gegeben hatte, in der Hoffnung, dass es genau das war, was ich schon früher getrunken hatte, und nichts, was mich, den Kopf nach unten, in einer Sickergrube oder einem Kanalschacht erwachen lassen würde (falls ich dann überhaupt noch einmal aufwachte). Aber es schmeckte wie ganz gewöhnlicher verdünnter Gin und hatte auch die gleiche Wirkung.
"Wenn ich ehrlich sein soll, Gerlach", sagte ich, "dann überrascht mich ein wenig die Bereitwilligkeit, mit der Sie Linda und mir Auskunft geben. Wir kommen hier als wildfremde Menschen hereingeschneit – Linda hat Ihnen, glaube ich, gesagt, dass sie Journalistin ist und für eine Story recherchiert –, und ich selbst bin Privatdetektiv. Das ist auch kein Beruf, bei dem die Leute vor Begeisterung ins Erzählen kommen ..."
"Im Ernst, das überrascht Sie?"
"Ziemlich, ja."
Er musterte mich ungerührt. Die Leichtigkeit, mit der er auf meinen Vorstoß reagierte, nötigte mir Respekt ab. Diese Politikergesichter im Fernsehen, die sich selbst in Großaufnahme bei einer verfänglichen Frage nicht mal durch das Zucken eines Augenlids verraten, haben für ihre Machiavelli-Gesinnung ein Maß an Körperbeherrschung erreicht, das selbst einem trainierten indischen Yogi zur Ehre gereichen würde.
"Es gehört schon lange zu meinen Prinzipien, im Umgang mit Menschen nicht nur an die eigene Bequemlichkeit und die eigenen Interessen zu denken. Etwas mehr Zuvorkommendheit und Höflichkeit stände uns allen gut an."
"Ist das ein Grundsatz Ihrer Politik, Gerlach?"
"Meiner Politik?"
"Sie waren doch mal Parteivorsitzender der Nationalen Vereinigung, einer rechtsradikalen Gruppierung, die man später wegen verfassungsfeindlicher Tendenzen verboten hat."
"Oh, das ist schon lange her."
"Seitdem kümmern Sie sich nur noch darum, Laub zu verbrennen und Elmonds Garten in Ordnung zu halten?"
Er lächelte mich an, aber seine Augen wirkten jetzt lange nicht mehr so freundlich wie der Rest seines Gesichts.
"Obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt, mich Ihnen gegenüber zu rechtfertigen", sagte er. "Ich bin kein Krimineller. Ich stehe fest auf dem Boden der Verfassung. Ich habe mich schon seit langem aus der Politik zurückgezogen."
"Sie