Nachdem sie geduscht, sich frisiert und wieder in das rote Sommerkostüm geschlüpft war, packte sie ihre Sachen zusammen, ging hinunter in die Schankstube und bestellte sich einen Kaffee. Bis auf zwei alte Männer, die in einer Ecke saßen und Zeitung lasen, waren noch keine Gäste da.
"Ein Hörnchen gefällig?", fragte der Wirt. Er hatte schon wieder, - oder immer noch? - einen Zigarrenstummel zwischen den Zähnen.
Laura warf einen schnellen Blick auf das Brotkörbchen auf der Theke. Die Backwaren darin dufteten und schienen frisch zu sein, und sie hatte Hunger. "Ja, gern", sagte sie. Das Letzte, was sie gegessen hatte, war eine Bratwurst gewesen, die sie sich am Abend zuvor schnell auf dem Bahnhof von Ossfelden gekauft hatte, bevor es mit der Kleinbahn nach Wallberg weitergegangen war.
Die breite Schiebetür, die von der Gaststube in den Tanzsaal führte, stand offen, und während Laura aß und ihren Kaffee trank, beobachtete sie die Frau, die mit Besen, Eimer und anderen Putzutensilien bewaffnet dort hantierte, wo sich am Tag zuvor das Jungvolk amüsiert hatte. Noch einmal seufzte sie tief. Das war gestern gewesen, das war vorbei. Heute war ein neuer Tag, und heute würde sie endlich Matthias' Familie kennenlernen.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr, Matthias hatte seinen Bruder für halb zehn Uhr angekündigt, er konnte jeden Augenblick hier sein. Sie stand auf und bezahlte ihre Rechnung.
"Vielen Dank, schöne Frau, beehren Sie uns mal wieder", grinste der Wirt.
Sie lachte. "Das wird wohl nicht mehr nötig sein", meinte sie und setzte sich noch einmal, um den letzten Bissen ihres Hörnchens zu verzehren und ihre Tasse leerzutrinken.
Draußen hörte man jemanden die Klinke der Haustüre hinunterdrücken. Sie griff nach ihrer Tasche, doch als sich die Tür zur Gaststube öffnete, kam kein junger Mann herein, sondern eine junge Frau mit feuerrotem Haar, großen Creolen und einem Piercing in der rechten Augenbraue. Sie trug Jeans und eine schwarze Lederjacke mit Achselklappen.
Der Wirt nickte ihr flüchtig zu, und Laura setzte sich wieder. Die junge Frau kam jedoch geradewegs auf sie zu.
"Hey, bist du Laura?"
Erstaunt blickte sie auf. "Ja, die bin ich."
Die Rothaarige streckte ihr die Hand entgegen. "Ich bin Jenny. Matthias hat uns beauftragt, dich abzuholen."
Laura wunderte sich, sie hatte sich die Mitglieder der Riva-Familie ganz anders vorgestellt.
Sie erwiderte den Händedruck. "Nett, dich kennenzulernen, Jenny. Ich hatte eigentlich Matthias' Bruder Michael erwartet."
Jenny lachte. "Der sitzt draußen im Wagen, er wollte nicht mit reinkommen." Sie nahm Lauras Tasche auf. "Komm, lassen wir ihn nicht warten."
Vor dem Dorfkrug parkte ein heller Combi, ein junger Mann stieg aus, als er die beiden Frauen kommen sah.
Das also war Michael, - auch ihn hatte sich Laura ganz anders vorgestellt. Statt eines makellosen Äußeren, statt Anzug und Krawatte, wie sie es von Matthias gewohnt war, trug er einen Dreitagebart und sportlich legere Kleidung. Sein Haar war heller, als das seines Bruders, dazu leicht gelockt und viel zu lang, um korrekt zu wirken.
"Hallo, ich bin Michael", stellte er sich vor, während er Laura die Wagentür aufhielt und ihr die Hand schüttelte. "Ich hoffe, du hattest eine gute Reise."
"Oh ja, danke."
"Und das Zimmer im Dorfkrug?", wollte Jenny wissen. "War das in Ordnung? Hast du gut geschlafen?"
Laura stutzte. War da eine Anspielung herauszuhören?, fragte sie sich. Sollte jemand aus dem Dorf den Rivas ihr Mißverhalten bereits gemeldet haben? "Ich habe wunderbar geschlafen, danke."
Erhobenen Hauptes setzte sie sich in den Fond des Wagens. Noch war sie nicht verheiratet, dachte sie trotzig, noch konnte sie tun und lassen, was sie wollte und war niemandem Rechenschaft schuldig. Außer Matthias vielleicht. Doch selbst, wenn er etwas herausbekommen sollte... Sie konnte die Geschichte ein wenig anders erzählen, als sie sich wirklich zugetragen hatte. Doch am besten wartete sie erst einmal ab, ob es tatsächlich konkrete Anschuldigungen gab, bevor sie sich eine Verteidigungsstrategie zurechtlegte.
Neben ihr auf dem Rücksitz war ein Kindersitz angebracht. "Für wen ist denn der?", erkundigte sie sich.
Jenny auf dem Beifahrersitz schaute sich nach ihr um. "Das ist der Thron von unserem Sebastian. Er ist jetzt zwei."
"Schade, daß ihr ihn nicht mitgebracht habt."
"Unsere Tochter Sandra ist bei ihm geblieben, sie hatte keine Lust, mitzukommen." Sie hob die Schultern. "Sie ist schon zwölf, und die Zeiten, in denen sie gern mit uns spazierenfuhr, sind längst vorbei. Mit Müh und Not haben wir sie dazu bewegen können, mit uns in Urlaub zu fahren, viel lieber hätte sie zusammen mit ihren Freundinnen etwas unternommen." Sie schnallte sich an. "Aber dazu ist sie uns einfach noch zu jung. Wir waren auf Mallorca, das hat ihr dann schließlich auch ganz gut gefallen."
"Wir sind gestern erst zurückgekommen", mischte sich Michael ein. "Zum Glück hab ich noch ein paar Tage zum Verschnaufen, bevor ich wieder in die Kanzlei muß."
Laura dachte daran, wie sehr auch Matthias stets seine freien Tage ohne Gesetzesbücher und Prozeßakten genossen hatte.
"Ab Montag herrscht wieder Anzugspflicht und ein glattrasiertes Kinn", meinte Jenny, und an ihren Mann gewandt fügte sie hinzu: "Und zum Friseur solltest du auch vorher, sonst laufen dir die Mandanten davon."
Michael nickte und startete den Wagen. "Nach dem Urlaub ist es immer verdammt schwer, sich wieder an die Arbeit zu gewöhnen. Eigentlich hätte ich gestern schon an Matthias' Seite sein sollen, ist ein ziemlich kniffeliger Prozeß, den wir da gerade am Hals haben. Aber...", er lachte, "der Boss hat ein Auge zugedrückt und mir noch ein ppar Tage Aufschub gewährt. Und ehrlich gesagt, ich bin froh drum."
Während Michael den Wagen über eine schmale Straße aus dem Dorf hinaus lenkte, schaute Laura neugierig aus dem Fenster. Die Landschaft um Wallberg herum gefiel ihr. Rechts und links gab es Kornfelder, grüne Weiden von kleinen Wasserläufen durchzogen und baumbewachsene Erhebungen. Und schließlich führte die Straße geradewegs auf eine Hügelkette zu, wo auf einer der Anhöhen, - wie ein kleines Schloß, - das Herrenhaus der Rivas stand.
Laura atmete tief. 'Meine neue Heimat', dachte sie, 'mein neues Zuhause.' Ihr Herz klopfte heftig vor Aufregung und Neugier. 'Mein neues Leben mit Matthias.'
Kapitel 2
Das Haus der Rivas war im 18. Jahrhundert von einem Grafen erbaut worden. Hundert Jahre später sahen sich seine Nachkommen allerdings gezwungen, es zu verkaufen, weil ihnen das Geld ausgegangen war. Die Vorfahren der Rivas, die schon damals zur Geldelite der Gegend gehört hatten, erwarben es, retteten es Schritt für Schritt vor dem Verfall und machten es zu ihrem Wohnsitz.
Im Grunde war es nicht das Haupthaus, das die Größe des Anwesens ausmachte. Der Grundriß glich einem U, und erst die Flügel, die rechts und links an das Hauptgebäude anschlossen und die Wohnungen der Familienmitglieder beherbergten, machten es zu einem recht imposanten Bauwerk. Die Straße, die vom Dorf heraufkam, führte an der breiten Freitreppe vorüber, bog dann um den Ostflügel herum und endete vor diversen Wirtschaftsgebäuden, Schuppen und Garagen.
Michael hielt vor dem Hauptportal, ließ die beiden Frauen aussteigen und stellte die Tasche des Gastes auf den Treppenstufen ab, bevor er den Wagen in die Garage fuhr.
Laura blickte staunend die Fassade hinauf. Ihr kam das Gebäude größer vor, als sie es aufgrund der Fotos, die ihr Matthias gezeigt hatte, erwartet hatte, und das, obwohl die Seitenflügel von der Straße aus noch gar nicht recht zu sehen waren.
Sie zuckte ein wenig