Die Regeln der Gewalt. Peter Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847654728
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allen in der Organisation war er ihr der liebste.

      Hinter seinem Unernst verbarg sich allerdings ein Hang zur Gewalttätigkeit, den sie oft für bloßen Selbstzweck hielt.

      Fall pflegte zu spötteln, er sei als Kind nie geschlagen worden, was in ihm ein tiefes Verlangen erzeugt habe, sich durch seine Fäuste mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen. Gelegentlich hatte sie den Eindruck, dass er trotz seines Engagements und der Bereitschaft, sein Leben zu riskieren, mehr zufällig in ihren Kreis geraten war.

      Seine politischen Ansichten hielt sie für verworren: Er neigte heute den Anarchisten und morgen den Sozialisten zu. Der marxistische Endzustand der Gesellschaft schien ihm schnuppe zu sein – «völlig unvereinbar mit der menschlichen Natur» –, trotzdem hatte er sich eine billige Ost-Berliner Bibliothek der Werke Stalins zugelegt, in der Übersetzung der Erstausgabe, die er bibliophil pflegte.

      «Das weiße Haus da. Sommers Arbeitszimmer ist zur Straßenseite. Charlotte hat herausgefunden, dass er sich abends meist im Zimmer an der Veranda aufhält.»

      «Und seine Frau?», fragte Werders.

      «Ein dummes Geschöpf, das nur für die Küche taugt.»

      «Besitzt sie eine Waffe?»

      «Sie hat Papa Sommer, der ist Waffe genug», witzelte Richard. «Er wird ihr fehlen.»

      Ohne Sommer, dachte sie, war der Weg frei. Mit Sommer würde es ein Kampf nach zwei Seiten sein – die gewöhnlichen Polizeiorgane nicht eingerechnet –, und das in der Vorbereitungsphase, wenn sie den französischen Computerspezialisten einwiesen, den Charlotte und Lena aus Paris mitbrachten.

      Doch auch davon abgesehen war es zweckmäßiger, ihn zu töten. Schon das abgerissene Deckblatt eines Frankfurter Stadtplans, in einem gestohlenen Wagen aus Heidelberg vergessen, hatte ihn sofort in der Stadt auftauchen lassen. Wie ein Bluthund, dem die geringste Witterung genügte.

      Sommer verhandelte nicht, er machte kurzen Prozess. Mit den Leuten vom BKA konnte man, reden. Sie würden – wenn auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, zu gewissen Kompromissen bereit sein, wenn sie keinen anderen Ausweg sahen.

      Solche Überlegungen waren nicht so absonderlich, wie es den anderen scheinen mochte. Obwohl sie sich hütete, sie jemandem aus der Gruppe mitzuteilen.

      Falls Sommers Plan – oder der seines Nachfolgers – sich realisieren ließ, würde es bald einen noch sorgfältigeren Verbund zwischen den BKA, den Polizeistellen und Einsatzgruppen und den verschiedenen Diensten in der Bundesrepublik geben, dem MAD und BND und seinen Abkömmlingen.

      Ihr Vorwand war simpel: Sie behaupteten seit langem, ihre Organisation sei von östlichen Nachrichtendiensten unterwandert. Mit diesem Argument ließ sich ein beispielloses Netz spannen, durch dessen Maschen auf Dauer zu schlüpfen vermutlich unmöglich war.

       Und in seiner Mitte, wie eine lauernde Spinne, hockte der Wiesbadener Computer.

      Sie sahen Sommer durch die große Verandascheibe im Salon sitzen, er hielt eine blaue Mappe auf den Knien und blätterte darin. Neben ihm, griffbereit, stand das Telefon.

      Der Lichtkreis einer Stehlampe hob seinen Sessel und seine untersetzte, beleibte Gestalt wie von einer Bühne ab. Er war stark kurzsichtig, seine Brillengläser ähnelten dicken Lupen.

      Unvermittelt schob er die Brille zur Stirn, beugte schräg den Kopf – als lese er nur mit einem Auge – und brach in ein heiseres Lachen aus ...

      Wenigstens schien es durch die Scheibe so, dem geschwollenen, rötlichen Hals nach zu urteilen – und den kurzen Atemstößen, die seinen Körper erschütterten.

      Ein schmaler Fußweg führte über den Rasen bis dicht an die Scheibe. Doch sie hüteten sich, ihn zu benutzen. Das großformatige Foto an der Seitenwand des Raumes zeigte eine Schneelandschaft. Darunter hing – auf der kleingeblümten Tapete in einem Kasten aus Nussbaumholz – Sommers doppelläufiges Schrotgewehr.

      Es war ein Liebhabermodell mit sorgfältig poliertem Schaft und geschnitzter Einfassung.

      Richard überquerte als erster den Rasen, lief geduckt an den hohen Sträuchern entlang und tauchte in den Schatten der Hauswand. Er winkte sie heran, als er nach vorn auf die Straße geblickt hatte.

      Das Haus besaß einen Seiteneingang, vermutlich, weil es einmal als Zwei-Familien-Haus mit getrennten Eingängen geplant worden war. Aber Sommer hatte es wegen seiner Karriere nicht mehr nötig, zu vermieten.

      Seit kurzem unterstand er direkt dem Innenminister – nach jahrelanger erfolgreicher Arbeit als Abteilungsleiter im BKA, mit Frahm als nächstem Vorgesetzten, dem legendären Leiter, der Wertmüller und Ranke gefasst hatte – und dessen persönliche Tragik es gewesen war, entdecken zu müssen, dass Edda Frahm, seine einzige Tochter, ihrem Kreis angehörte …

      Werders öffnete mit dem Dietrich die Tür. «Von dieser Seite aus wird er uns nicht erwarten», meinte er zuversichtlich. Seine Handgriffe waren präzise und sicher wie immer.

      Als sie im Korridor standen, fühlte sie wieder diese Kälte in der Magengegend.

      «Schalldämpfer», murmelte sie fast unhörbar, und Richard reichte ihn ihr aus der Umhängetasche. Seltsamerweise fiel ihr fast immer der griechische Strand ein, während sie das Rohr auf den Browning-FN schraubte: ein sonnendurchglühter Strand mit blauem Wasser, an dem die grauen Felsen aufstiegen, nur hier und da von hartblättrigen, niedrigen Pflanzen durchsetzt. Zikaden zirpten, und am Himmel standen einzelne krause, weiße Wölkchen.

      Es war die Stelle, an der sie zum ersten Mal einen Menschen getötet hatte … einen süddeutschen Bauunternehmer, der ihre Mutter um 200.000 Mark betrogen hatte, ohne dafür belangt werden zu können.

      Er lag gemütlich auf der gestreiften Luftmatratze nahe beim Wasser, den fetten weißen Leib zur Seite gedreht, und da sein Strohhut über dem Gesicht lag, sah er sie nicht einmal als Schattenriss aus der Sonne über den weiten, einsamen Strand kommen.

      Durch halb Europa hatte sie ihn verfolgt (eine Hure prellte man fast ohne Schwierigkeit um ihr wohlverdientes Geld, wenn man ihr Liebe und geschäftliche Aussichten vorspiegelte, denn da es schwarz verdient war, existierte es offiziell gar nicht. Außerdem würden die meisten Frauen nur mit großen Hemmungen zugeben, dass sie auf Versprechungen einer so dümmlichen Liebschaft hereingefallen waren).

      Angelika stieß die Glastür zum Salon auf. Sommer musterte sie durch die dicken Brillengläser, als habe er eine Gotteserscheinung. Seine Miene erstarrte.

      Er erhob sich ungelenk, versuchte es, einen Arm auf das Polster der Lehne gestützt, doch es gelang nur halb … die blaue Aktenmappe rutschte zu Boden. «Was …?»

      Sie ging mit zwei großen Schritten auf ihn zu und zielte aus nächster Nähe auf seine Stirn.

      Sommers Kopf zuckte zurück. Sein Körper fiel wehrlos gegen die Sessellehne.

      Werders sicherte die Tür, während Fall das Plakat aus der Tasche nahm und es ausrollte; er musste es einige Male gegenrollen, damit es glatt blieb. Sie richteten Sommer auf, und er hängte ihm das Plakat auf die Brust. Sein Text lautete:

       Hingerichtet für begangenes Unrecht – und als Warnung an seine Nachfolger. Gruppe Kobra.

      Dann nahm er die Polaroidkamera heraus und schoss sechzehn Fotos gleicher Art von dem Mann mit der kreisrunden Einschusswunde auf der Stirn, während Werders sie in vorbereitete adressierte und frankierte Umschläge zu stecken begann, die an Presseagenturen und große Tageszeitungen gehen würden. Angelika sicherte die Tür …

      Doch Frau Sommer schien in der Küche nebenan mit ihrem Mixer beschäftigt zu sein. Sein schrilles Geräusch hatte kurz vor dem Schuss eingesetzt …

      Fall hob die blaue Mappe auf und steckte sie ein. Sie ließen Sommer mit dem umgehängten Schild im Sessel zurück.

      4

      Vodreux erwartete sie neben der