Und als ich so aus dem Fenster blicke und mir die Erinnerungen aus vergangenen Tagen durch den Kopf schießen, fasse ich den Beschluss, dass all diese Erlebnisse aus 20 Jahren Nachtleben, all die schlaflosen Nächte, die ich in Clubs, im Auto oder im Flieger verbracht habe, zu wertvoll sind, als sie einfach irgendwo im hintersten Eck meines Kopfes verstauben zu lassen. Ich bin ein Mann und habe leider kein fotografisches Gedächtnis wie so viele Frauen, die dir jeden Dialog und Streit Wort für Wort vorbeten können – und sei es fünf oder zehn Jahre her. Manchmal scheint mir mein Hirn ein bisschen wie ein Schweizer Käse. Dies war also diese eine Nacht. Die wahrscheinlich eintausend und erste, die ich mal wieder ohne Schlaf verbracht hatte, und der Groschen war gefallen. Ich wollte dieses Buch schreiben. Ich wollte alles auf Papier festhalten. Für mich, meine Freunde und Eltern und ein paar interessierte Leser vielleicht.
„Du musst deine Geschichten aufschreiben!“, mahnte mich neulich doch tatsächlich ein sechzigjähriger Bekannter aus meinem Fitnessstudio, als ich mal wieder nach einem langen Wochenende aus Dubai und Brasilien zurückkam und – ohne es zu merken – von ihm eine halbe Stunde lang über den ganz normalen Wahnsinn, als internationaler DJ auf Reisen ausgefragt wurde.
So viele tausend Nächte auf der Bühne, so viele ungezählte Flüge über den Ozean, so viele Veranstalter und DJs, Clubber und selbsternannte Celebrities … erlebt an oft sehr ungewöhnlich Orten – vom Szeneclub in Dubai und New York bis zur illegalen Open-Air Party in Indien oder dem hintersten Sibirien …
Diese Eindrücke fliegen wie Meilen im Flieger im Sekundentakt an mir vorbei.
Der größte Teil dieses Buches handelt vom Reisen als Musiker und entstand auch hauptsächlich beim Reisen. Im Flugzeug, auf dem Schiff, im Hotelzimmer oder am Strand. Genauso will ich den Leser aber auch an meiner Gefühlswelt teilhaben lassen, an dem unglaublichen Adrenalinstoß, wenn du auf der Bühne stehst und dir Hunderte oder Tausende zujubeln, oder am Ärger, wenn ein Ägypter in Kairo dir nach der Party erzählt, dass sein Partner leider mit einem Teil deiner Gage abgehauen sei, an dem Hochgefühl, wenn du interessante Menschen und Orte kennenlernst, und den Entbehrungen, die ich über Jahre hinweg meinen Freunden, meinem Umfeld und Eltern zugemutet habe.
All diese Geschichten habe ich versucht mit Humor, einer Prise Ironie und auch tüchtig Selbstkritik in Worte zu fassen.
Auch ist dieses Buch nicht in einem „Rutsch“ entstanden, ich habe es vielmehr in vielen einzelnen Etappen geschrieben, oftmals unter dem Einfluss extremer emotionaler Zustände, die sich mit ein wenig zeitlichem und gefühlsmäßigem Abstand zum Teil etwas komisch oder sonderbar lesen. Ich habe diese Abschnitte aber absichtlich nicht im Nachhinein editiert oder entschärft.
Es ist ein Prozess, der manchmal ein halbes Leben braucht, bis man als Künstler herausfindet, wann man am besten ist, in welchen Momenten und in welchem Gemütszustand man wirklich kreativ wird.
Nachdem ich schon viele Jahre die Welt als DJ bereist hatte, fiel mir auf, dass mir meine besten musikalischen Ideen an den komischsten Orten kamen. Im Flugzeug oder kurz vor meinem Auftritt. Manchmal befand ich mich nach mehreren Nächten ohne Schlaf und vielen Stunden auf der Bühne in einer Art transzendentem Zustand, bei dem die Einfälle nur so aus mir heraus flossen.
Und jedes Mal, wenn ich von einer meiner „Geschäftsreisen“ zurückkam, hatte ich so viele kleine Geschichten und Erlebnisse im Kopf, dass ich zu schreiben begann. Es wäre zu schade gewesen, diese als Erinnerungen für mich alleine zu behalten.
Schon immer hat mich das Reisen fasziniert. Es wurde mir praktisch in die Wiege gelegt. Meine Eltern, vor allem mein Vater, haben mit mir schon sehr früh – wie sie es nannten – „Abenteuerurlaube“ unternommen. Schon bevor ich in die Pubertät kam, hatte ich die mexikanischen Pyramiden, den Nil, die Mangroven-Wälder Floridas und den Grand-Canyon gesehen. Ich liebte es, neue Dinge zu erleben und ich empfand auch die Reise an sich nie als Tortur, sondern eher als eine Art Faszinosum.
Das war auch der Grund, warum ich nach dem Abitur entschied, Geografie und Sport auf Lehramt zu studieren. Leider galt zu Beginn des Studiums mein Interesse mehr dem Ausgehen und Beachvolleyball spielen als der „vertikalen Struktur eines Podsol-Bodens in Schleswig-Holstein“. Es war zu verlockend, sich dem Dolce-Vita hinzugeben. Seitdem ich 18 bin, habe ich jedes Wochenende mindestens zweimal als DJ in verschiedenen Clubs oder auf Partys gespielt. Meine Gage war damals schon ganz ansehnlich, sodass ich schon sehr früh finanziell von meinen Eltern unabhängig war. Ich konnte in Urlaub fahren, wohin ich wollte, mir ein Cabrio kaufen, Mädchen ausführen. Einfach traumhaft. Und so nahm ich mein Studium an der Universität von Karlsruhe auch anfangs nicht zu ernst, sondern genoss das Leben.
Diese Einstellung wurde mir dann auch beinahe zum Verhängnis und erst nach einem Härteantrag bei der geografischen Fakultät bestand ich die Zwischenprüfung endlich beim dritten Anlauf. Dann aber brachte ich den Rest meines Studiums schnell und gut zu Ende und schloss mein Examen überdurchschnittlich gut ab.
Parallel dazu entwickelte sich meine musikalische Karriere recht erfolgreich und zum Ende des alten Jahrtausends war ich ein in Süddeutschland sehr gut gebuchter DJ. Warum also nicht etwas riskieren und mal sehen, wie weit man als Plattenaufleger kommen kann? Das dachte ich mir nach Abschluss meines Studiums und begann mich voll auf die Musik zu konzentrieren und ließ mein Lehrerleben sein.
Dass ich über zehn Jahre später an die 50 Länder bereist und mir tatsächlich einen international anerkannten Status erspielt haben würde, konnte ich mir damals nicht einmal im Traum vorstellen.
Wie alles begann – von Show Me Love bis Put Your Hands Up For Detroit – Miles per Minute: 2
Es muss so 1990 gewesen sein, als ich begann, mich intensiv für die Musik zu interessieren. „Pump Up The Jam“ von Technotronic war ganz vorne in den Hitparaden und ich wünschte mir von meinen Eltern zu meinem 15. Geburtstag ein kleines und günstiges Zweikanalmischpult.
Mich faszinierten immer schon eingängige Melodien, vor allem, wenn sie künstlich mit Synthesizern oder anderen Instrumenten erzeugt werden. Ich hatte in meiner Jugend drei Jahre Cello-Unterricht genommen, konnte aber keine Beziehung zu diesem Instrument aufbauen. Es ist schwer in Worte zu fassen: Ich konnte zwar die Noten vom Blatt sehr gut spielen, aber es floss keine Melodie aus meinen Fingern. Da war einfach keine Affinität zwischen mir und dem Streichinstrument.
Dafür ließ ich mich umso mehr von Technik begeistern und experimentierte ruhelos mit dem kleinen Mischer. Ich schloss den damals schon 20 Jahre alten Dual-Plattenspieler meiner Eltern an und versuchte über den kleinen Geschwindigkeitsdrehregler, rechts unten, Musik von meinem neuen „Best Of 1990“-Album mit Liedern, die ich auf Kassette hatte, zu mischen und nahtlos deren Beat in Einklang zu bringen mit dem der Platte. Ich war total hypnotisiert von der Tatsache, dass man mehrere Lieder ohne Pause und Stolpern des Rhythmus‘ ineinander mischen kann. Mit zwei gleichen Musikstücken war es mir mit ein wenig Übung sogar möglich, deren prägnante Stellen sogar endlos zu wiederholen. Heutzutage kann das jedes Kind. Einfach den „Loop“-Button am CDJ drücken und schon hat man einen perfekten Ein-Takt-Loop. Ich brauchte Wochen dafür, bis ich eine Technik heraushatte, per Kassette und Dual-Plattenspieler wenigstens zwei bis drei einigermaßen saubere Wiederholungen von 20 oder 30 Sekundenabschnitten hinzubekommen. So wie im legendären „The Adventures of Grandmaster Flash on the Wheels of Steel“, wo die Hip-Hop-DJ-Legende Grandmaster Flash einen Live-DJ-Mix an drei Turntables auf Vinyl verewigt hat.
Um mein Repertoire und Musikwissen zu vergrößern, stand ich daraufhin stundenlang im Plattenladen und hörte mir ganze Berge von Vinylscheiben an. Ich brauchte unbedingt neues Material zum Mischen, vor allem Maxi-Singles. Eine Maxi, landläufig und global meist 12inch oder 12'' genannt, ist die lange Version eines Liedes, extra für DJs produziert und auf Vinyl gepresst, mit längeren Drum-Parts zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Titels. Dadurch ist es für einen DJ leichter, die Titel ineinander zu blenden, ohne dass der Gesang oder die Instrumente der zwei Musikstücke sich gegenseitig stören.
Helmut, der damalige Besitzer des besten Plattenladens in Ulm, des Record Express, musste mich gehasst haben. Ich stand stundenlang