Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch etwas zum Begriff der „Substanz“ sagen, den wir bereits kurz in Verbindung mit Spinoza gestreift hatten. Sie erinnern sich der aufschlussreichen Definition in der „Ethik“, die wir noch einmal zitieren wollen:
„Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird“. (Spinoza: Werke. Ethik. Erster Teil. Von Gott. Definitionen Nr. 3. Hrsg. von Konrad Blumenstock. Darmstadt 1980, Bd. II, S. 87).
So weit Spinoza. Es bedarf jetzt keiner weiteren Ausführungen mehr; Sie haben sofort begriffen, welche Rolle hier der primäre Erkenntnisakt mit seinen Denkleistungen spielt. Wir könnten auch so formulieren: „Substanz“ ist das, was auf sich selbst beruht, autochthon und unableitbar. Das gilt nach Spinoza sowohl für materielle wie auch für ideelle Substanzen, für alles, was für sich ist, und deshalb auch für die höchste Substanz: für Gott. Gott, Sein und Wahrheit werden identisch, weil sie sich nur noch auf sich selbst zurückführen lassen. An diese Grenze stoßen alle, die über solche Begriffe philosophieren wollen. Jedes begriffliche Darüber hinaus gehört in die phantasierende Metaphysik. Es kommt hinzu, dass der Begriff „Substanz“, als Spiegelbegriff zur Selbsttragekraft des Denkens, die zunächst berechtigte Bezeichnung für etwas war, was uns als unveränderlich entgegenzutreten schien. Aber heute ist der Substanzbegriff in der Naturwissenschaft ins Wanken geraten. Auch die sog. und geliebte „Materie“ kann nicht mehr als Substanz im ursprünglichen Sinne des Wortes verstanden werden. Dasselbe gilt für den Begriff „Geist“, sofern darunter eine Substanz verstanden wird, es sei denn, man halte mit Haeckel den lieben Gott für ein „gasförmiges Wirbeltier“. Ich weiß nicht, was Gott als „Substanz“ bedeuten soll, wenn ich bei der alten Begriffen bleibe, aber ich erkenne sofort seinen konkreten Sinn, wenn ich seine Relation zu den „Kategorien des Denkens“ herstelle. Dort hat er seine sinnvolle Heimat, gleichviel welche berechtigte oder unberechtigte Rolle er in den speziellen Kogitaten spielt. Er ist wegen seiner vielfältigen Konnotationen auf jeden Fall mit höchster Vorsicht zu behandeln.
In all unseren bisherigen Überlegungen stellt sich eindeutig heraus, dass in sämtlichen sekundären Erkenntnissen die Vorleistungen des primären Erkenntnisaktes wirksam sind. Gerade die Copula „ist“ beweist das. Aber es muss immer wieder klargemacht werden, dass wir von keinem kategorialen Apriori sprechen, von keiner strukturellen Bestimmtheit des Denkens, obwohl wir die traditionellen Sprachbilder brauchen, die zu dieser Annahme verführen könnten. Das hat seine Ursache darin, dass wir zunächst einmal wegen unserer doppelten Wahrnehmungsform das Ideelle, also unsere Begriffe, isoliert betrachten müssen und Gefahr laufen, sie als unabhängig von der Erfahrung zu betrachten. Alle unsere „Kategorien des Denkens“ sind ausschließlich reine Erfahrungsbegriffe, sind in genauem Sinne des Wortes introspektiv gewonnenes wirklichkeitsgetreues Aposteriori, sind konkrete Weltstrukturen, obwohl sie als abstrakte Formen erscheinen, wenn wir sie uns im Bewusstsein isoliert gegenüberstellen. Die reale Anschauung eines raumzeitlichen Gegenstandes, eines Baumes etwa, kennt diese Abstraktion nicht: wir identifizieren den Baum als Baum, ohne seinen Begriff als etwas von ihm Verschiedenes zu erfahren. Dasselbe gilt für die innere Wahrnehmung: wir erfahren unmittelbar die Selbsttragekraft des Denkens als objektiv vorgegebene Weltstruktur, als auf sich selbst beruhende Wirklichkeit, die nirgends den unlogischen Anlass bietet, ein dahinterstehendes „Ding an sich“ zu konstruieren, das doch nur wieder in semantischer Variation dieselbe Aussage macht, die uns bereits aus der „fertigen Welt“ entgegen leuchtet. Eine solche Verdoppelung hat keinen Sinn: man kann kein Etwas durch und mit sich selbst erklären wollen.
Im Sinne unserer bisherigen Überlegungen ist auch der mit Recht heute so umstrittene „Platonismus“ nicht sinnvoll. Wer die Begriffe oder Ideen zu selbstständigen Wesen macht, verkennt die Tatsache, dass wir vermöge unserer Ich-Organisation, über die wir nachher reden werden, die einzelnen Begriffe aus einem Ganzen herauslösen und für sich allein (als sog. „Quasi-Gegenstände“) in die „intermittierende Denkbeobachtung“ hereinnehmen und betrachten können. Das ist aber Sache unserer Organisation und kein erkenntnistheoretisches Problem. Alles Ideelle ist zwar eine Realität, sonst könnten wir keinen Gegenstand erkennen, es gehört zur Sache, aber seine Erscheinungsform in Gestalt von Begriffen hängt zweifellos mit gewissen subjektiven Strukturen unserer Organisation zusammen. Allerdings dürfen wir nicht in der Fehler verfallen, den Wahrheitsgehalt der Begriffe zu leugnen oder sie in ihrer jetzigen Erscheinungsweise essentialistisch zu verabsolutieren. (Dies Überlegungen werden noch Konsequenzen haben.)
Nun erst tritt der „monistische Wahrheitsbegriff“ in das rechte Licht. Der primäre Erkenntnisakt führt das getrennt Wahrgenommene zusammen und macht es zu einem Einheitlichen, das objektiv existiert, d.h. unabhängig von uns und von uns auch nicht hervorgebracht - im Sinne unserer früheren Feststellungen, dass „Selbstproduziertes“ und „Fremdproduziertes“ korrelative Begriffe sind. Von der Seite des Objektes gesehen müssen wir sagen, dass jedes Objekt ein konkretes Drittes ist, also kein Konglomerat aus „ideellem“ und „begrifflosem Sinnenschein“, sondern ein unzerlegbares Etwas, das wir erst in unserer Wahrnehmung zerlegen, um es dann im Erkenntnisakt wieder als Ganzes zu erfassen. Erst so entsteht das, was wir „Welt“ und „Wirklichkeit“ zu nennen gewohnt sind.
Eine andere Frage ist es, warum uns der raumzeitliche Wahrnehmungshorizont in endlos auseinander gegliederten Einzelgestalten erscheint: es wäre doch, rein hypothetisch, denkbar, dass er uns auch in einer davon völlig verschiedenen Weise gegenübertreten könnte. Probieren Sie es einmal, irgendeine andere Vorstellung, d.h. in gestaltloser Art, zu imaginieren, und Sie werden sofort erkennen, dass Sie dazu gar nicht in der Lage sind. Schon diese Aufforderung ist unsinnig. Wie ist das zu erklären? Hierzu erst einige Vorbemerkungen. Es liegt schon in ihrem Begriff, dass eine Gestalt durch eine Tatsache bestimmt ist, die ihr Wesen ausmacht: sie hebt sich von ihrer Umwelt ab und führt ein Eigenleben, das auf ein verborgenes Zentrum hinzuweisen scheint. Welche philosophischen Interpretationen Sie auch hinzufügen mögen: voraus geht die Grundeigenschaft der Gestalt, sich als ein Etwas darzubieten, das, scheinbar unabhängig von allem, ganz auf sich selbst beruht. Man ist versucht, an die „Monaden“ von Leibniz zu denken. Jede Wissenschaft hat es immer und ausschließlich mit Gestalten zu tun, wenn sie Objekte untersucht, seien es nun Atome, Moleküle, Strukturen, Energieformen oder komplizierte Lebensprozesse. Auch die nicht sinnenfälligen Wahrnehmungen, wie Begriffe, Gedanken und Gefühle, verfügen auf ihre eigene Weise über Struktur- und Gestaltcharakter, also über innere Zusammenhänge, die sich uns als so etwas wie „Ganzheiten“ darbieten. Es spielt dabei gar keine Rolle, was die „Gestaltpsychologie“ und „-philosophie“ (Driesch, Lorenz u.a.) im einzelnen diskutieren: sie alle leben von der ursprünglichen Gestaltwahrnehmung, sonst gäbe es nichts, aber auch gar nichts zu identifizieren. Wir müssen immer und überall in der Lage sein, ein Etwas als Dieses und kein Anderes zu bestimmen, wenn wir erkennen wollen. Das geht nur mit Hilfe der „Gestalt“. Und den Zusammenhang aller „Dinge“ erleben wir als Gestaltzusammenhang; und diesen Zusammenhang erfassen wir innerhalb der evolutiven Form- und Bilderfolge als den langen Entwicklungsweg zu immer mehr zentrierten und immer intimer auf sich selbst beruhenden Gestaltensteigerungen. Und wir identifizieren sie, gewollt oder ungewollt, nach dem Rang der Unmittelbarkeit ihrer Selbstbeziehung. Es hat noch nie eine andere Evolutionslehre gegeben. Und wenn wir schließlich bis hinauf zum Menschen kommen, finden wir das letztmögliche Phänomen der Selbstbeziehung vor, nämlich die immanente Selbstrückbezüglichkeit, d.h. wir erkennen und ergreifen uns als mit uns selbst identische Gestalten. Diese Überlegungen weisen den Weg zu einer spirituellen Evolutionslehre. Damit sind wir schon wieder bei unseren „Kategorien des Denkens“ angelangt: wir suchen naturgemäß allemal und überall das, was auf sich selbst beruht, sich selbst trägt und bei sich zu Hause sein will, ohne uns daran zu stoßen, dass es sich in so verschiedenen Stufen manifestiert. Auch unser persönliches Erkenntnisstreben sucht ein Zuhause in einer sich begreifen wollenden Selbsterkenntnis, also nicht auf dem bloß formalen Weg der abstrakten Identitätsfindung (A = A), sondern in der höchstmöglichen Form aller möglichen Identitätsstrukturen: in einer durchsichtigen Form von „Selbstbegründung“, in der unser Fragen immer mehr zur Ruhe kommt. Wir kennen diesen Begriff von früher und wissen, was er meint, aber wir sind nicht in der Lage, ihm eine vorstellbare Kontur zu geben, d.h. als „Gestalt“ zu ergreifen und zu verstehen. Wir erinnern uns dabei der Formel „causa