Damit sind wir einen Schritt weitergekommen. Die Wahrheit ist doch etwas mehr als nur die „Leere“, von der wir gesprochen haben: sie gibt sich als „Selbstbegründungselement“, das den sinnlosen regressus ad infinitum der Warum-Frage aufhebt, ohne uns zu bestimmen. Sie ist ein „Freiraum“, aber einer, der nur das Wahrheitsdenken annimmt und deshalb jede willkürliche Besetzung verbietet, obwohl wir auch willkürlich verfahren können, wenn sich unser Ich nicht auf die realen Verhältnisse einlässt. Wir müssen immer in Richtung „Selbstbegründung“ denken, oder wir gehen in die Irre. Über diese Wahlmöglichkeit, d.h. über den aktologischen Zusammenhang von Ich und Wahrheit, also über die Freiheit, werden wir einiges zu sagen haben, wenn wir über das menschliche Handeln aus Erkenntnis sprechen können.
Vielleicht werfen Sie mir jetzt vor, dass ich gerade dabei bin, mich in einen Widerspruch zu verwickeln, indem ich aus dem angeblich strukturlosen Element des Denkens eine Struktur von fundamentaler Bedeutung herausschäle, nämlich eine Wahrheitsstruktur, die es nach unseren Prämissen nicht geben darf. Dieser Einwand ist sehr ernst zu nehmen, auch wenn er an den tatsächlichen Zusammenhängen nichts ändert. Wir wollen später diese Frage untersuchen. Für jetzt muss Ihnen der Hinweis genügen, dass unser Denken über allen seinen Begriffen steht, sogar über den Begriffen „Wahrheit“, „Denken“ und „Selbstbegründung“. Wenn dem nicht so wäre, müssten wir das Absolute begrifflich erfassen können. Das aber ist nicht möglich. Wir gehen zwar mit ihm um, wir er-greifen es, aber wir be-greifen es nicht, weil es selbst das Element des Begreifens ist - jedoch mit der „Absicht“, sich nach und nach in der Evidenz aufzuheben.
16. Zwei Beispiele: die „causa sui“ und das „lumen gloriae“
Für diejenigen unter Ihnen, die mit der Geschichte der Philosophie nicht vertraut sind, lassen Sie mich in gebotener Kürze zwei historische Beispiele vorlegen, die Sie in die ganze Bedeutung unserer Überlegungen einführen können und die den Nachweis erbringen mögen, dass alles Denken schon immer um das Selbstbegründungselement des Absoluten kreist, unbeschadet der verschiedenen sprachlichen und religiösen Formen der Einkleidung. Wir wollen zwei ausgezeichnete Philosophen der Vergangenheit nach ihrer Stellung zum Prinzip des Absoluten befragen, und zwar zuerst Spinoza und dann Thomas von Aquin.
Wer die „Ethica“ Spinozas studiert, fühlt einen Hauch von Ewigkeit, dem sich noch kaum ein Leser hat entziehen können. Sie vermittelt den Eindruck, als würde man unmittelbar die Erhabenheit des Weltgrundes wahrnehmen. Es gibt wohl keinen Philosophen, der seine Gedanken mit solch würdevollem Ernst vorgetragen hat, und wiederum keinen, der es unternommen hätte, den Begriff „Gott“ mit mathematischer Präzision zu erfassen (Ordine Geometrico Demonstrata) wie Spinoza. Er beginnt definitorisch mit den Grundbegriffen seines Systems, um, wie er meint, eine unwiderlegliche Ausgangsposition für seine Ableitungen zu erhalten. Sehen wir uns einige Formulierungen einmal genauer an. Da finden wir als den ersten Satz eine Definition, die es uns schwer macht, einen logischen Sinn darin zu finden:
„Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.“ (Spinoza: Werke. Ethik. Erster Teil. Von Gott. Definitionen Nr. 1. Hrsg. von Konrad Blumenstock. Darmstadt 1980, Bd. II, S.87)
So die Interpretation dessen, was jahrhundertelang als „causa sui“ bezeichnet worden ist. Wie nun der Sprung von der „Ursache seiner selbst“ zur realen „Existenz“ möglich wird, erklärt sich aus dem mittelalterlichen Seinsbegriff, den ich Ihnen hier nicht vorführen will, weil er für uns keine logische Gültigkeit mehr besitzt. Allerdings muss das mit einer gewissen Einschränkung gesagt werden. Nun ist diese „causa sui“ wesenhaft identisch mit dem, was Spinoza „Substanz“ nennt, ein Begriff, den er so definiert, dass wir an unser Problem schon näher herankommen:
„Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird (Per substantiam intelligo id, quod in se est, per se concipitur); d.h. das, dessen Begriff nicht den Begriff eines anderen Dinges nötig hat, um daraus gebildet zu werden“ (Spinoza, a.a.O. Nr. 3)
Und über Gott lesen wir:
„Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Seiende, d.h. die Substanz (Per Deum intelligo ens absolute infinitum, hoc est, substantiam...)“. (Spinoza, a.a.O. Nr. 6)
Damit ergibt sich der aufschlussreiche Zusammenhang: die Begriffe „causa sui“, „Substanz“ und „Gott“ sind nur sprachlich verschieden, aber ontologisch meinen sie das Urwesen der Welt, das wir Gott nennen, weil es sein eigener Verursacher (Schöpfer), seine „causa sui“ ist, und das wir als „Substanz“ bezeichnen müssen, weil es ganz auf sich selbst beruht (Deus sive substantia) - und wir dürfen noch weitergehen, ohne Spinoza Unrecht zu tun: unter „causa sui“ muss man ein Doppeltes verstehen, nämlich den Selbstschöpfer und den Selbstbegründer, also das unableitbare Wesen, das in seiner Bestimmungslosigkeit die Qualität des „Unendlichen“ hat, wie man damals noch sagte. Und alle diese Kategorien gehören zum Wesen des überpersönlichen All-Einen, der durch die „Verursachung“ seiner selbst, die unableitbar ist, die endlosen ableitbaren Ursachenketten hervorbringt, die wir im Erkennen mit mathematischer Genauigkeit zu entfalten haben. Das „ens a se“ geht in das beschränkte „ens ab alio“ über, das uns als „Endlichkeit“ gegenübertritt. Damit wird Spinoza zum radikalen Philosophen der Kausalität, der wir uns unterwerfen müssen, weil sie der verendlichte Weg des unendlichen Gottes ist. Auch der menschliche Verstand muss trotz seines Stufenweges zur Erkenntnis als begrenztes Element des göttlichen Geistes betrachtet werden, als eins der unendlich vielen „Attribute“ Gottes, und eins der wenigen, an denen wir teilhaben. In dieser Betrachtungsweise, nach der die Welt von oben nach unten abgeleitet wird, ist natürlich kein Platz für die Freiheit. Wir besitzen ja nur einen „Teil des unendlichen Verstandes Gottes“, und zwar den eingeschränkten, verendlichten Teil, der nur Wirkung, aber nicht Ursache ist.
Diese wenigen Andeutungen mögen für unsere Zwecke genügen. Es ist üblich geworden, derlei Gedankengänge als Scheinprobleme aufzufassen oder als „mythisches“ Denken, das der Entmythisierung bedarf, um den rationalen Gehalt festzustellen. Das ist nicht völlig falsch, aber auch nicht ganz richtig. Wenn wir die mythische Einkleidung abstreifen, dann bleibt etwas übrig, das uns sehr bekannt vorkommt:
Spinoza umkreist mit rational nicht immer gerechtfertigten Mitteln dasselbe Problem, mit dem wir uns hier beschäftigen, und er kommt zu einem Ergebnis, das uns nicht besonders befremden dürfte. Setzen wir an die Stelle des Gottesbegriffes den Begriff der Wahrheit, und das entspricht der Auffassung Spinozas, dann zeigt sich der Zusammenhang zwischen beiden: die Selbsttragekraft des Denkens erscheint in der „Ethik“ als „ens a se“ und „ens per se“, und die alles umspannende Universalität des Denkens finden wir in dem Begriff „Unendlichkeit“ wieder, und in beiden die Unableitbarkeit und Bestimmungslosigkeit der Wahrheit. Spinoza hat nicht phantasiert, aber in einer religiös verbrämten Sprache geschrieben, die das wesentliche Problem verdunkelt, und Schlüsse gezogen, die nicht aus der Sache begründet werden können. Seine Spekulationen sind unannehmbar, aber sein philosophischer Instinkt brachte ihn genau an die Probleme heran, um die wir uns immer bemühen müssen. Schon Aristoteles legte den Grundstein für das Wahrheitsdenken, und das Mittelalter theologisierte das aristotelische Denken in zweifellos mythisierender Weise. So entstand die scholastische Mixtur, die uns heute unbefriedigt lässt. Und doch zieht sich durch das gesamte Zeitalter der Philosophie wie ein roter Faden die immer wieder von neuem erlebte Gewissheit: die Wahrheit hat ihren Grund in sich. Aber an die Stelle der Spekulation muss die sorgfältige Beobachtung treten, die sich in sachlichen Begriffen realisiert.
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