Und nicht nur ihm ergeht es so. Meine Brüder haben denselben Gesichtsausdruck drauf. Wie gebannt starren sie auf meine nackte Haut – besser gesagt meine Tattoos. Tja, ich hatte in den letzten vier Monaten eine leichte Identitätskrise, muss ich an dieser Stelle zugeben. Da sind noch ein paar Symbole dazugekommen. Dunkle Symbole, wohlgemerkt – passend zu meiner Stimmung – also bevor ich pure Sonne in Form der Götterspeise getankt habe.
Als ich Henry sein Jackett zuwerfe, blinzelt er zum ersten Mal wieder, doch da hab ich mich schon wieder umgedreht und mache mich daran, Kaffee aufzusetzen. Ich kann nur noch hören, wie die Tür ins Schloss fällt und meine Brüder krampfhaft Luft ausstoßen.
„Raven, du machst mir Angst“, gibt Junus zu.
„Du hast mich doch schon so oft nackt gesehen. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir monatelang ein Bett geteilt – ebenfalls nackt“, werfe ich ein.
„Wer hat dir das tätowiert?“, will er wissen.
„Galahad“, stoße ich selbstverständlich aus. Ich habe ihn ein paar Mal hier in Chicago getroffen.
„Ich bring ihn um“, raunt Junus ärgerlich. Ich drehe mich lächelnd um und summe vor mich hin, während ich den Tisch für ein Frühstück decke.
Artis krächzt alarmiert. „Wo sind deine Haare?“ Sag bloß, ihm ist mein Kurzhaarschnitt erst jetzt aufgefallen. Sein geschockter Blick auf meine privateste Stelle erklärt dann, welche Haare er meint.
„Einem Brazilian Waxing zum Opfer gefallen“, antworte ich.
„Du bist sechzehn“, tadelt mich Junus.
„Wusste nicht, dass man dafür einundzwanzig sein muss. Das hat mir Bob vom Schönheitssalon um die Ecke wohl verschwiegen“, verarsche ich sie. Junus hab ich gleich so weit, dass er an die Decke geht, bei Artis dauerts noch ein bisschen.
„Könntest du dir bitte etwas anziehen? Das passt so gar nicht zu dir, dass du dich vor einem wildfremden Hexer entblößt“, tadelt mich Artis.
„Er wollte sein Jackett zurück. Außerdem ist er nicht wildfremd – er ist der Enkel meines Nachbars“, rede ich mich raus, während ich mir einen Pullover überziehe, damit er endlich Ruhe gibt.
„Wo hast du überhaupt deine Kleider gelassen? Doch nicht etwa bei dem Arschloch“, will Junus wissen.
„Nein, die hab ich am See verloren“, gebe ich zu.
„Am See“, wiederholt Artis ungläubig.
„Ja, ich war schwimmen“, lächle ich, während ich Kaffee in Tassen eingieße.
„Um diese Jahreszeit? Bist du von Sinnen?“, prustet Junus, der auf mich zukommt und mir an die Stirn fasst. „Du hast leichtes Fieber. Wahrscheinlich hast du dir eine Lungenentzündung eingefangen. Wie viel hast du gesoffen, dass du im April nackt in den Michigansee baden gehst?“
„Seit wann bist du so ein Spießer?“, werfe ich ihm vor. Ich wende mich Artis zu und frage: „Ist er sonst auch so ein Langweiler?“
Artis öffnet seinen Mund für eine Antwort, klappt ihn aber – eingeschüchtert von dem stechenden Blick seines Freundes – unverrichteter Dinge zu.
„Ich hätte dich nicht allein herziehen lassen sollen. Du bist noch zu jung, um für dich selbst zu sorgen. Ich wusste, dass etwas nicht stimmt, als du dich mit diesen fadenscheinigen Ausreden um einen Besuch bei uns gedrückt hast. Dein Haar, die Symbole … alles Zeichen dafür, dass du Hilfe brauchst. Du kommst wieder mit nach New York“, befiehlt Junus. Ich schnappe nach Luft.
„Nur weil ich mir die Haare geschnitten und mich tätowieren hab lassen, hältst du mich für nicht allein lebensfähig?“, stoße ich belustigt aus.
„Das ist nicht witzig, Raven. Du hast dich irgendwie verändert. Das gefällt mir nicht“, erwidert er.
„Ach, das gefällt dir also nicht, dass ich mich verändere, Bruder. Nur zu deiner Information, ich bin hier glücklich. Zum ersten Mal.“ Okay, da spricht die bewusstseinserweiternde Droge aus mir. „Mit wem ich ausgehe, ist meine Sache. Ich bin Single und lebe das auch aus. Wer weiß, vielleicht probier ichs mal mit einer Frau? Wer braucht schon Kerle, die einem die ganze Zeit auf die Brüste glotzen oder den Hexenmeister raushängen lassen. Frauen haben ja außerdem sowieso mehr Feingefühl als Männer.“ Das war ein Scherz. Damit will ich ihn nur auf die Palme bringen. Ich steh auf Jungs – definitiv.
Bei meinem Bruder hat Schnappatmung eingesetzt. Artis klopft ihm beruhigend auf die Schulter. „Wir sollten gehen, wir sind bereits spät dran“, wechselt er das Thema, um Junus abzulenken.
„Darüber reden wir noch, Fräulein“, droht mir Junus mit erhobenem Zeigefinger. Ich hätte so richtig Lust, ihm die Zunge rauszustrecken, aber so stoned bin ich auch wieder nicht. „Jetzt bringen wir dich erst mal zu deinem Vater, der nämlich den ‚Hexenmeister‘ raushängen lässt und auf eine Hinrichtung von Tiberius und Nadar besteht. Der ursprüngliche Plan war eigentlich, dich mit Beliars Hilfe mit Glücksgefühlen vollzupumpen, bevor du da durch musst, aber das ist ja nach hinten losgegangen“, fährt Junus fort. Verdammt, ich dachte, mein Vater lässt sich noch etwas mehr Zeit mit dieser grotesken Hinrichtungs-Geschichte.
„Vater besteht darauf, dass du – wie von dir gewünscht – vorher noch mit beiden sprechen kannst, bevor er über sie richten wird“, ergänzt Artis.
Ja, ich will sie noch ausquetschen, ob sie etwas über meine leibliche Mutter wissen, aber hatte gehofft, das einfach mal länger hinauszuzögern, damit ich doch noch irgendwie meinen Vater dazu bringen kann, Gnade walten zu lassen. Ich meine, die Todesstrafe ist doch echt ätzend. Dieses Angstgefühl steigt an die Oberfläche und durchbricht soeben die rosa Wolke, die den ganzen Scheiß bis jetzt abgefangen hat.
„Ich will aber nicht“, stoße ich lahm aus.
Beide meiner Brüder lächeln. „Wenn du nicht freiwillig mitgehst, wird er dich dazu zwingen. Und glaub mir, die ‚Kerle‘, die er schicken wird, haben noch weniger ‚Feingefühl‘ als wir es haben“, erklärt Junus. Danke übrigens für den Seitenhieb.
Toll, wie komm ich da jetzt wieder raus? Meine rosa Wolke macht sich schön langsam aus dem Staub.
„Aber so nehmen wir dich nicht mit uns. Wir müssen das mit deiner Frisur wieder hinbekommen. Du würdest viel zu viel Aufsehen erregen, wenn du mit einer Männerfrisur im Mittelalter auftauchst“, knallt mir Artis vor den Latz.
„Ich will mich aber nicht für andere verändern“, schmolle ich.
Junus seufzt. „Geh erst mal unter die Dusche Kleines, da klebt der halbe Strand an dir.“ Genervt ziehe ich in Richtung Bad Leine.
Als das Wasser auf mich niederprasselt, ist es so, als würden mich die Emotionen mit der vollen Breitseite treffen. Alles kommt grad wieder hoch und die ersten Tränen vermengen sich mit dem Duschwasser. Beliars Gesicht, als ich ihn weggestoßen habe, die bereits verdrängte Angst vor dem Aufeinandertreffen mit Tiberius und Nadar, das Chaos der letzten Nacht, die Droge – alles kommt hoch.
In Henrys Jackentasche waren zwei Ampullen von dem Zeug. Die zweite Spritze hab ich mir im Auto in die Handtasche gesteckt.
Ich schließe die Augen, ersehne das warme Gefühl, das mich erfüllt hat, als ich mir das Serum in die Vene gejagt habe. Erneut bekomme ich Angst. Bin ich jetzt abhängig, weil ich daran denke, es zu nehmen? Nein, ich hab das unter Kontrolle. Nur noch ein einziges Mal, damit ich die Hinrichtung besser ertrage – das würde jeder verstehen. Doch meine Brüder dürfen davon nichts mitkriegen – die würden durchdrehen, wenn sie davon erfahren.
Ich lasse das Wasser laufen und schiele auf den Flur hinaus. Die Luft scheint rein zu sein. Schnell tapse ich rüber zur Garderobe und kralle mir meine Handtasche.
Auf dem Weg zurück erhasche ich Wortfetzen des Gesprächs