Die Schäden in den Kirchen sind so gut wie repariert, genauso wie an den Gebäuden, die durch den Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Menschen leiden weiter.
Andreas Ganziger, Jan Ludreit und Lars Mölter sind zu trauriger Berühmtheit gelangt. Zum Schrecken der Überlebenden und ihrer Angehörigen gibt es im Internet Seiten, die die drei Konvertiten als leuchtende Beispiele und Märtyrer verehren. Es ist schwierig, den Inhabern dieser Seiten auf die Spur zu kommen. »Die Server stehen im Ausland. Da haben wir kaum eine Chance«, erklärt der Sprecher des BKA. Den Angehörigen bleibt nichts anderes übrig, als den Computer auszumachen.
»Man wird so wütend. Da stehen Kommentare wie ‚die ungläubigen Hurensöhne und ihre Nutten schmoren jetzt in der Hölle! Allahu akhbar!‘«
Margot S. verlor ihren Sohn und ihre Schwiegertochter, als Lars Mölter seine Bombe zündete.
»Mit welchem Recht meinen diese Extremisten, uns auf so feige Weise ihren Glauben aufzwingen zu können? Gegenkommentare werden einfach gelöscht. Die sind an unserer Meinung gar nicht interessiert. Da kommen höchstens übelste Beleidigungen und Verhöhnungen von uns Deutschen, unseren Werten, unserer Religion und unserer Lebensweise. Und dann löscht der Admin unsere Kommentare, lässt aber die dieser Rassisten stehen.«
Auf meine Frage wird sie noch wütender. »Natürlich sind das Rassisten! Sie hacken auf uns Deutschen herum und setzen uns als Volk herab! Haben Sie mal die Kommentare gelesen?«
Die Herabwürdigung und Verhöhnung der Opfer ist tatsächlich besorgniserregend. Allerdings sind es nur vereinzelte Fanatiker, die Deutschland so etwas angetan haben. Murat C., der mit Andreas Ganziger befreundet war, will von dieser Art des Fanatismus nichts wissen.
»Die haben die Suren im Koran befolgt, die nur im heiligen Krieg Anwendung finden dürfen. Wenn man also im eigenen Land angegriffen wird. Es gibt auch sehr viele Suren, die den Glauben anderer respektieren und Frieden fordern. Man darf jetzt nicht alle Moslems in einen Topf schmeißen.«
»Das ist doch Taqiyya, das erlaubte Belügen und Betrügen der Ungläubigen. Die Friedenssuren gelten doch gar nicht mehr, und selbst wenn sie es täten, es gibt so viele Stellen im Koran, die zum Mord an Ungläubigen auffordern«, schnaubt Kerstin Ludreit, die Schwester eines der Attentäter. »Ich muss mich täglich angreifen lassen von Leuten, die denken, unsere ganze Familie wäre so, und wir hätten alle Bescheid gewusst. Dieser Glaube hat unsere ganze Familie in Misskredit gebracht und meinem Bruder das Hirn vernebelt.«
Die Anschläge haben Hass, Verwirrung, Misstrauen, Trauer und Rassismus geschürt. »Was bringt es dieser Gruppierung denn, Menschen in die Luft zu sprengen? Außer, dass ihnen jetzt nur noch mehr Wut entgegenschlägt?«, fragte Martina Ganziger verzweifelt nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie. »Wieso haben sie meinen Sohn dazu gebracht, so etwas Schreckliches zu tun? Andreas war so ein guter Junge, sein ganzes Leben lang. Dann weckte irgendein Extremist sein Interesse am Islam, und er entglitt mir völlig. Jetzt ist er tot, und hat so viele Unschuldige mit in den Tod gerissen. Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte.«
Martina Ganziger traute sich seit den Attentaten nicht mehr vor die Tür. »Sie glauben ja nicht, was ich schon alles im Briefkasten hatte. Die bringen mich noch um ...«
Deutschland ist seit dem 24.12.2016 ein Hexenkessel, in dem es brodelt. Linke und Rechte schieben sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe, die der IS nahestehende Gruppe droht mit weiteren Anschlägen, Demonstrationen werden gewaltsam niedergeschlagen. Die Trauer weicht der Wut. Moscheen wurden niedergebrannt, muslimische Gemeindezentren mit Schweineblut besudelt. Wie soll das noch enden, steht an die Wand des Hauses gesprüht, in dem Martina Ganziger sich versteckt hielt.
Darauf kennt niemand die Antwort.
Gläubig
»Habt ihr auch die Kanten gestern noch angeleimt?«
»Ja, hat Murat gemacht.« Andreas hievte das Werkzeug in den Lieferwagen und sah seinen Chef stirnrunzelnd an. Der fand, Andreas hatte in letzter Zeit sehr schlechte Laune.
»Die Kanten sind alle sauber verleimt«, versicherte Murat und reichte Andreas zwei Werkzeugkoffer.
»Gut. Dann steigt mal ein. Wir sind schon spät dran.« Markus Derkwert schloss die Türen und setzte sich ans Steuer. Murat und Andy stiegen hinten ein.
Er fuhr los und schaltete das Radio an, denn heute gab es komischerweise keine Gespräche. Murat sah seinen Freund zwar von Zeit zu Zeit irritiert an, aber Andy hatte seine Nase in ein Buch gesteckt. Das war auch gut so, denn so sah man Andys Gesicht nicht. Er war heute schon den dritten Tag beklagenswert unrasiert. Bei den Kunden kam es für gewöhnlich nicht gut an, wenn man aussah wie ein Räuberhauptmann. Markus sah in den Rückspiegel und betrachtete Andys Haarschopf, der tief über sein Buch gebeugt war.
»Der Koran? Seit wann interessierst du dich denn für Religion?«, fragte Markus überrascht.
Andreas zuckte mit den Schultern. »Seit ein paar Wochen«, murmelte er.
»Und wieso? Nix für ungut, Murat«, setzte Markus hastig hinzu, »ich finde das nur etwas ungewöhnlich.«
»Ich auch. Willst du konvertieren, Andy? Das kannst du bei uns in der Moschee tun«, versicherte Murat eifrig. Andreas brummelte nur etwas Unverständliches und las weiter.
Markus und Murat tauschten einen verständnislosen Blick im Rückspiegel.
»Endlich Pause.« Erleichtert gesellte sich Murat zu Andy, der lustlos an seinem Brot kaute, und zündete sich eine Zigarette an. Sofort hob Andy den Kopf und sah seinen Freund scharf an.
»Was ist denn?«, fragte der verwundert.
»Da fragst du noch? Du rauchst!«, donnerte Andy.
»Ja, und?«
»Du weißt doch, dass das verboten ist?«
»Verboten? Hä?«
»Na, bist du nun Moslem oder nicht?«, fragte Andy scharf.
»Natürlich bin ich einer. Vom Rauchen steht nichts im Koran!«
»Aber dass man seinem Körper keinen Schaden zufügen soll! Und dass Rauchen schadet, ist ja wohl bekannt!«
»Langsam glaube ich, du spinnst. Wo kommt das denn auf einmal her?«
Ärgerlich schüttelte Andy den Kopf. »Nur, weil ich mein Leben lang in einer geistigen Wegwerfgesellschaft gelebt habe, muss das ja nicht heißen, dass es so bleibt. Sieh doch nur einmal fern. Wie viele nackte Brüste du da zu sehen bekommst!«
Murat grinste. »So schlimm ist das ja nun auch wieder nicht.«
Andreas schüttelte verächtlich den Kopf.
»Deinen Humor hast du heute wohl zu Hause gelassen?« Murat musterte seinen Freund besorgt. »Wirst du jetzt etwa zu so einem Fanatiker? Was sagt denn Jana dazu?«
Andreas‘ Gesicht verfinsterte sich. »Ich soll ein Fanatiker sein? Nur, weil ich die Worte des letzten Propheten befolge, den Gott uns geschickt hat?«
»Das ist immer so eine Sache mit der Auslegung. Selbst Experten haben Probleme, das Arabisch von damals korrekt zu übersetzen.« Murat warf seine Zigarette weg, und trat sie aus. Andreas brachte es fertig, dass einem nicht einmal mehr die Pausenzigarette schmeckte! Als er seinen Fuß wegnahm, bemerkte er etwas Rosiges und Rundes neben dem zertretenen Stummel.
»Was ist denn das?« Er sah auf das fast aufgegessene Brot seines Freundes.
»Bist du deswegen so schlecht drauf? Weil dir dein Schinken