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erreichten also Blumental. Das Dorf war noch jung. Hübsch gelegen zwischen grünen Hügeln mit blühenden Bäumen und Wiesen voller Löwenzahn gab es nur etwa zwei Dutzend Häuschen. Unter den Einwohnern hatte Otto Jaske einige Bekannte, weil eine Base von ihm hierher geheiratet hatte. Auf der Hinfahrt waren sie bereits hier eingekehrt und nun warteten auf die erschöpften Reisenden ein gedeckter Tisch und eine warme Mahlzeit. Dazu etliche neugierige Leute, die viele Fragen stellten und natürlich auch Auskunft gaben. Diese Mittagspause wurde ziemlich lang. Man bat sie natürlich auch, hier zu übernachten, dennoch verabschiedete sich die Reisegesellschaft am Nachmittag von den gastfreundlichen Leuten und machte sich wieder auf den Weg. Schließlich lagen bis Teplitz noch fast siebzehn Meilen vor ihnen. Nach diesem von Landsleuten bewohnten Tal folgten zwei Tagesreisen ohne Ortschaften. Sie folgten zwar schon dem Flüsschen Kogälnik, an dessen Ufern auch der Heimatort lag, aber das Gelände war schwierig. Nicht immer konnten sie am Fluss entlang fahren, häufig mussten sie Umwege durch die felsigen Hügel in Kauf nehmen. Das Land war hier karg und steinig, das Flüsschen schäumte und sprudelte über Stromschnellen. Die Wageninsassen wurden durchgerüttelt und geschüttelt und spürten bald jeden Knochen im Leib. Als sie am letzten Apriltag in Leipzig ankamen, goss es wie aus Kannen. Es war wieder kühler geworden. Otto meinte, sie könnten froh sein, dass es nicht schneie. Doch von nun an hatten die Reisenden jeden Abend ein Strohlager in einer Scheune, einen Schlafplatz in einem Schuppen oder sogar ein Bett zur Verfügung, denn nun waren sie bald daheim. Hier hießen die Ortschaften Josefsdorf, Korntal oder Friedensfeld. Die Deutschen bewirteten die Landsleute herzlich, alle hatten gerne Gäste. Man brauchte nur an eine Tür zu klopfen, schon bekam man eine Mahlzeit angeboten. Niemandem fiel es ein, Geld zu verlangen, alle teilten bereitwillig das Wenige, das sie hatten. Dieses Tun war gottgefällig und für die frommen Menschen eine Selbstverständlichkeit. Außerdem waren sowohl Otto Jaske als auch Albert Hanemann hier bekannt. Auch ihre Mission hatte sich derweil herumgesprochen. Dementsprechend neugierig waren die Leute auf die Frau mit den fünf Kindern. Die eine oder andere Familie hatte sich sogar auf die Adoptionsanzeige gemeldet, die der Teplitzer Pisar überall hatte anschlagen lassen. An manchen Abenden kamen an die zwanzig Dörfler in das Haus des jeweiligen Gastgebers, um sich die Fremden zu besehen.

      Für Wilhelmine und die Kinder waren solche Abende sehr anstrengend. Zudem wurde die Mutter immer bedrückter, was sogar den Kleinsten auffiel. Obgleich diese Zeit sehr aufregend war, kam es doch gelegentlich vor, dass sich Emilie in die stille Hütte bei Cherson zurücksehnte, als der Vater noch am Leben und die Mutter noch fröhlich gewesen war. Am 4. Mai des Jahres 1906 erreichten die Reisenden Teplitz.

      Im Frühjahr des Jahres 1895 waren sie fortgezogen. Jacob und Emilie waren noch ganz klein gewesen, die anderen Kinder noch nicht geboren. Dreihundert Kilometer, fast vierzig Meilen, trennten sie elf Jahre lang von der Heimat. Nun mussten sie hier wieder ein Zuhause finden.

      Der Wagen rollte fröhlich ratternd den baumgesäumten Weg, von Krasna kommend, auf ein Dorf zu. Es war früher Nachmittag, die Bauern arbeiteten auf den Feldern. Ein Karren kam ihnen entgegen, man grüßte sich.

      „Wir kommen jetzt nach Alt-Elft hinein!“, rief Albert gegen das Rattern des Wagens. „Meine Frau stammt von hier, ein hübscher Ort.“

      Emilie richtete sich auf. Gerade hatte sie ein bisschen gedöst, nun schob sie sich nach vorn und schaute hinaus. Durch den hellen Sonnenschein geblendet, kniff sie die Augen zusammen. Das Dorf war von Ferne ein heller Klecks im zarten Frühlingsgrün. Weiße Häuser mit roten Dächern standen dort, dazwischen viele Bäume. Links und rechts des Dorfes, leicht ansteigend, die Felder. In langgestreckten Rechtecken lagen sie da, oberhalb derselben gab es Weinberge. Die flache Ebene, auf der die Reisenden seit gestern fuhren, bot dem Auge einen weiten Blick. Am fernen Horizont verschmolz das zarte Gelb des Steppengrases mit dem blassblauen Frühlingshimmel. Dies war also die Budschaksteppe! Es gab keine alten Bäume, selbst die in den Dörfern waren nicht sehr hoch. Der Himmel war hier irgendwie viel größer. Am Horizont war eine flache Hügelkette zu sehen. Albert wies nach links. Die Neuankömmlinge folgten seiner Geste mit den Blicken. Der Kogälnik floss jetzt ganz friedlich neben ihnen her, eingerahmt von Buschwerk. Etwas entfernt sah man Häuser.

      „Dort liegt Paris!“, rief Albert. „Dort kommt mal die Bahnstrecke lang. Und dort ... “, er zeigte nach rechts und alle Köpfe drehten sich gehorsam mit, „dort liegt Katzbach, seht ihr?“ Alle nickten, obwohl man von Katzbach nur den Rauch der Schornsteine sah. Dafür kamen sie jetzt nach Alt-Elft hinein. Am Dorfeingang fiel ihr Blick auf den Kälberbrunnen. Dort wurde für das Vieh Wasser geschöpft und in große hölzerne Tröge geleitet, damit die Tiere saufen konnten. Auch am anderen Dorfende gab es einen solchen Brunnen. Links stand die Mühle. Doch nicht mit dem Wasser des Flusses wurde diese Mühle angetrieben, denn dazu war die Strömung viel zu schwach. Hier wurde mit Stroh Dampf erzeugt und mit diesem Wunderwerk der Technik Weizen, Gerste und Mais gemahlen. Jacob staunte noch die Dampfmühle an, da hatte Paula noch etwas Besseres entdeckt.

      „Ein Maibaum!“, schrie sie laut und zeigte nach vorn. Da stand ein großer, mit bunten Bändern und Blumen geschmückter Maibaum mitten auf der Straße. Die Kinder schauten hinten aus dem Wagen heraus und gafften.

      Es war wirklich ein hübscher Ort. Fast alle Häuser und Mauern waren weiß getüncht. Die Akazien an der Straße begannen zu grünen. Auf den Bänken an den Hofmauern saßen die Alten und ließen sich von der Frühlingssonne die Winterkälte aus den Gliedern treiben. Mit zahnlosem Lächeln grüßten sie freundlich die Vorbeifahrenden. Die Dorfstraße war bestimmt fünfundvierzig Meter breit. Quer über die unbefestigte Straße führten kleine Trampelpfade. Das waren die ‚Klatschwegla‘ der Weiber, wie sie von den Männern abfällig genannt wurden. Dabei benutzten sie sie selber. Die Häuser und Höfe waren groß und sauber. Alle neueren Häuser hatten hohe Fenster und massive Mauern, die Hofmauern zwischen den dicken Pfosten waren individuell gestaltet. Hübsche Blumenrabatten schmückten die Vorgärten. Man sah kein Fachwerk oder Zäune aus Holz, denn Bauholz war hier knapp. In langer Reihe fügte sich Hof an Hof, Haus an Haus - immer mit dem Giebel zur Straße. Kilometerlang musste die Dorfstraße sein. Und doch war sie irgendwann zu Ende und sie rollten auf der anderen Seite wieder aus Alt- Elft hinaus. Teplitz war nun nicht mehr weit, nach einer knappen halben Stunde Fahrt erreichten sie endlich den Heimatort. Dieser glich, wie auch alle anderen deutschen Dörfer, in seiner Anlage Alt-Elft, war jedoch noch größer. Auch hier erhob sich auf einem Platz ein Maibaum. Etliche Jugendliche standen dort beisammen und blickten auf, als der Wagen vorbeirollte. Otto Jaske winkte und einer der Burschen stieß einen überraschten Jubelruf aus.

      „Mein Sohn!“, erklärte Otto stolz. Doch sie hielten nicht an.

      Flinke Pferdewagen und behäbige Ochsenkarren belebten die Straße. Männer und Frauen gingen mit Körben oder Kiepen beladen ihrer Arbeit nach. Ein Bauer und seine Frau trugen Heurechen über der Schulter. Ein Bursche rollte ein großes Wagenrad zum Schmied. Emilie betrachtete interessiert die Leute. Alle Frauen trugen große, dunkle Kopftücher, deren lange Fransen Brust und Schultern bedeckten und vorn nur lose verschlungen waren. Die Tücher der jungen Mädchen waren bunt. Die Männer hatten oft noch die langen Schafpelzmäntel an und Pelzmützen auf, was die typische Winterkleidung war. Manche trugen jedoch schon die leichteren, hochgeschlossenen Joppen und die leichten Tuchmützen. Schwatzende Hausfrauen hielten inne und starrten die Ankömmlinge an. Dann hatten sie es plötzlich sehr eilig. Sie liefen schnell ins Haus um kurz darauf mit der Großmutter im Schlepptau wieder herauszukommen. Andere klopften erst bei der Nachbarin an, ehe sie sich auf den Weg zum Pfarramt machten.

      Emilie und ihre Geschwister winkten unbefangen aus dem Wagen den Leuten zu. Was für eine Heimkehr! Als Otto und Albert erkannt wurden, ertönten Rufe, es wurde gewunken. Bestimmt wussten auch die Angehörigen der Männer schon, dass die Familienväter heimgekehrt waren. Trotzdem hielten sie nicht eher an, als bis sie die Kirche erreichten. Erst dort kam der Wagen zum Stehen. Die Männer sprangen vom Kutschbock. Mit steifen Gliedern kletterte auch Wilhelmine vom Wagen und hob die Kinder herunter. Derweil waren auch einige Schaulustige eingetroffen.

      „Wilhelmine, kennst‘ mich noch?“, rief eine korpulente Frau und fasste die Jüngere mit beiden Händen um die Schultern.

      Die so Angesprochene stammelte verdutzt: „Ja, ja du bist doch... du bist... “

      „Martha!