Erst wenn wir es schaffen, uns das Geschehene anzuschauen, zu reflektieren, den Ursprung unseres Handelns zu verstehen, sind wir in der Lage, uns grundlegend zu ändern und neue Wege zu bestreiten. Erst dann können wir aktiv aus dem Opfersein ausbrechen und unser Leben anders gestalten als es unsere Eltern oder Großeltern getan haben.
Meine Mutter ist durch die Hölle gegangen – ich noch einmal. Wir haben jedoch viele Muster erkannt und sie durchbrochen.
Ich bin stolz auf uns.
Deine Tochter Anja
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Vom Sohn
Als ich dieses Buch las und begriff, wie niederträchtig Menschen – auch mein Opa – sein können, packte mich die Wut.
Meine Mama sagte mal: „Lerne aus meinen Fehlern.“ Jetzt habe ich eine Ahnung, was sie meinte.
Ich habe viel von Dir lernen dürfen.
Dein Sohn Thomas
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Von der Freundin Mo
Als wir uns 1994 kennen lernten, befand sich jede von uns an einer Wegkreuzung des Lebens und musste sich den zu bearbeitenden Seelenbildern stellen.
Als meist unbequeme Freundin habe ich mal ganz nah und auch fern Deinen Lebensweg begleiten können. Habe Deine Kämpfe, Trauer, Wut und letztlich auch Deine Ohnmacht miterlebt.
Trotzdem, wie Phönix aus der Asche bist Du weiter auf Deinem Weg!!!
In verbundener Freundschaft
Mo
Einleitung
Draußen waren Geräusche zu hören. Kam da jemand? Leise setzte ich mich im Bett auf und lauschte. Parallel überlegte ich, wohin ich entwischen könnte. Aber es ging alles so schnell.
Ich fühlte das kalte Eisen des Revolvers an meiner Schläfe und sah Jo´s hasserfülltes Gesicht vor mir. Ich konnte nichts mehr tun. Mein Körper wurde starr und kalt vor Angst. Ich wusste, das Leben war vorbei und ich ergab mich dem unausweichlichen Schicksal. Jo drückte hämisch grinsend ab...
... ich wurde wach, setzte mich im Bett auf und versuchte diesen Traum abzuschütteln.
Wie fing es an?
Bilder steigen in mir auf. Unser erstes gemeinsames Silvester. Wir liegen im Bett und trinken roten Krimsekt. „Ein frohes Neues Jahr 2002“, flüstert er dicht an meinen Mund bevor er mich küsst. Als ich zu Atem komme proste ich ihm zu. „Ein glückliches Neues Jahr.“ Im Radio läuft Stimmungsmusik. Plötzlich springt er auf, dreht das Radio lauter und zieht mich mit. Der Kaiserwalzer! Wir tanzen durch sein großes Schlafzimmer. Er im Unterhemd und ich im Schlüpfer. Schwungvoll dreht er mich im Takt. Im Spiegel sehe ich eine glückliche Frau. Als das Lied verklingt sinken wir aufs Bett und lieben uns.
Später kuschelte ich mich nah an ihn heran. „Ich kann so nicht schlafen“, sagte er. „Ich bin gewohnt viel Platz zu haben.“ Mit diesen Worten schob er mich von sich weg, drehte sich um und schlief ein. Irritiert lag ich alleine seitlich im Bett.
Weihnachten hatte Jo mich zu einem Konzert von André Rieu eingeladen. Als der Kaiserwalzer erklang, zog Jo mich über die vorderen Sitze in den Gang und tanzte mit mir nach den Klängen. Der Kaiserwalzer. Scheinbar war es das einzige Lied, welches Jo mochte. Ich liebte dieses Lied.
Damals dachte ich, dass Jo eben einfach nur das macht, was er möchte und keine Peinlichkeit kennt. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nichts von seinem Spiel. Die Erkenntnis sollte erst Jahre später kommen.
Ja, so war mein Leben mit Jo. Seliger Walzer, wir tanzten im Kreis, liebten uns – und immer wieder Ernüchterung. Der Tanz wurde schneller, er wurde hektischer und aus Ernüchterung wurde über tiefste Verletzung ein Erkennen, wie mit mir „getanzt“ wurde.
Der Kaiserwalzer. Er ist traurig. Ich hasse dieses Lied.
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2001 Das erste Treffen
Schon beim ersten Treffen hat er mich tief berührt. Ich fühlte mich ausgeliefert und wusste, dass dieser Mann meinen inneren Panzer und alle heimlichen, verschlossenen Räume in meiner Seele erreichen würde. Ich wusste, dass er keine Gnade walten lassen würde, und dass er nicht vorhatte, barmherzig zu sein. Ich wusste, dass er all meine inneren Türen brutal und heftig auftreten wird. Und ich ahnte, dass er meine wohlgeordneten Gefühle neu mischen würde.
Ich schaute in seine blauen Augen und erkannte etwas wieder – einen blanken Ruf aus Schmerz. Nackt, geruch- und farblos. Einen Schmerz, der ebenso unsichtbar sichtbar war, wie meiner. Es war nur ein Moment, den ich fast vergessen hatte.
„Wir kennen uns“, sagte ich. „Ja,“ erwiderte Jo, „aber nicht aus diesem Leben.“ Ein ungewöhnlicher Anfang.
Wir saßen uns im Cafe gegenüber. Ich schaute auf den See hinunter und beobachtete die saftige grüne Trauerweide, deren Blätter schon fast ins Wasser reichten. Aus meinen Gedanken heraus sagte ich: „Alles läuft darauf hinaus, sich selbst in einem anderen Menschen wieder zu erkennen. Das ist eine Form von Nähe, die Wahrheit enthält.“ „Was ist Wahrheit?“ fragte er und strich mir dabei zärtlich über die Hände. Sein Streicheln war zu früh und zu aufdringlich. Und trotzdem wollte etwas in mir, dass er weiter streichelte. „Ist es Wahrheit oder ist es nur deine Meinung?“ fing er wieder an. „Ja, das stimmt, es ist meine Meinung. Und diese ist für mich Wahrheit.“ „Nein“, sagte er, „es gibt kaum Wahrheit, es gibt Übereinstimmungen zwischen den Menschen und dann sagen sie, das wäre Wahrheit.“ Ich gab ihm Recht. „Und was ist für dich Nähe?“ fing er wieder an. Ich wand mich. Auch diese Frage war zu früh. Seine Augen tauchten tief in meine ein. Und dann sagte er: „Du bist gar nicht fähig, Nähe zuzulassen.“ Nun zog ich endlich meine Hand weg, lehnte mich zurück und verschränkte meine Arme über meinen Oberkörper. Wie konnte er es wagen, so etwas zu behaupten! Er kannte mich doch noch gar nicht. Spöttisch lachte er. Meine Körpersprache hatte ihm den Beweis erbracht.
Wieder beugte er sich vor und schaute mich intensiv mit seinen blauen Augen an: „Kannst du dir vorstellen, mit jemanden absolute Nähe zu leben? Kannst du dir vorstellen, dich ganz zu öffnen bis es keine Geheimnisse mehr gibt und zwei Menschen in absoluter Nähe verschmelzen?“ Ich versteckte meine Angst hinter einem nervösen Lachen. Er erwartete keine Antwort.
Jo hatte in der Brusttasche seines Hemdes ein Bündel Geld. Er zahlte und gab großzügig Trinkgeld. Er erzählte mir, dass er selbständig sei und einen Großhandel hat und gut davon leben könnte. Zu dem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass die vielen Scheine in seiner Brusttasche dazu dienten, sein mageres Selbstbewusstsein zu erhöhen und er in Wirklichkeit am Existenzminimum lebte. Sein Auftreten ließ auf einen Geschäftsmann schließen, der sorglos seinen Reichtum genoss.
Es war mir nicht wichtig, ob er nun reich oder nicht reich war. Für mich zählte nur der Mensch.
Auf dem Weg nach Hause, dachte ich über unser Treffen nach. Dachte an seine Hand, die meine hielt und zärtlich streichelte und an den Kuss zum Abschied. Irgendwie war Jo anders als andere. Ich war neugierig auf ihn und er machte mir Angst.
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