Sonnabend, 3. Februar 1945:
Wir haben bis heute früh in Klaussitten (Kreis Heiligenbeil) gerastet. Der Feind kommt näher. Die Bewohner von Klaussitten fuhren schon am Donnerstag fort. Bei Sturm und Regen fahren wir über Zinten nach Heiligenbeil. Die russischen Flieger beschießen die Straße. Wir haben viel Angst ausgestanden. Wir erreichen Heiligenbeil. Die Polizei zwingt uns, weitere Flüchtlinge mitzunehmen. Wir kommen zum Abend an Fischerkaten vorbei. Die Pferde stehen an einem Strohberg im Wasser. Wir schlafen auf einem Speicher. Werni und ich fallen die Stufen herunter, haben uns aber nichts gebrochen. Wir erkranken beide an einem ruhrähnlichen Durchfall.
Sonntag, 4. Februar 1945:
Wir fahren weiter zum Frischen Haff. Die Wege sind verstopft, es geht nur langsam weiter. Im Wald machen wir Rast, kochen etwas Warmes und übernachten. Wir schlafen auf dem Wagen. 150 m von uns fallen nachts Bomben.
Montag, 5. Februar 1945:
Wir sehen das Eis des Frischen Haffs bei Leißunen und die feindlichen Flieger beschießen die Treckwagen auf dem Eis im Tiefflug. Die Polizei leitet uns nach Alt-Passarge, 8 km südlich. Die Verstopfung der Straße ist zu groß.
Dienstag, 6. Februar 1945:
Wir fahren auf Moordämmen langsam dem Haff zu. Alle Wege sind verstopft. Alles strömt dem Haff zu. Die Pferde sind unruhig, sie frieren. Wir schlafen auf dem Wagen, wir haben keinen warmen Trunk mehr und leiden an schwerem Durchfall und Fieber. Das Wetter ist milde.
Mittwoch, 7. Februar 1945:
Morgens um 8 Uhr fahren wir auf das Eis des Haffs. Uns allen ist sehr bange. Wir sehen eingebrochene Wagen aus dem Eis ragen. Tote Pferde, von Beschuss und Bomben getroffen, liegen verstreut auf dem Eis. Weiter liegen tote Soldaten und Zivilisten auf dem Eis. Wagen waren getroffen, alles lag herum: Ein Bild des Elends und des Grauens. Es befinden sich lange breite Spalten im Eis, die wir überqueren müssen. Die Eisschollen senken sich vor den Wagenrädern, die Pferde treten in den entstehenden Spalt und springen wieder heraus. Über uns Tiefflieger und Beschuss. Wie durch ein Wunder kommen wir aus dieser Not bis zur Nehrung.
„In wie viel Not hat doch der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“
Unser Blick geht über das Haff zurück, da steht Frauenburg in Flammen. Der Russe schießt mit seiner Artillerie auf die Nehrung. Es gibt Tote und Verwundete. Bei strömendem Regen übernachten wir unter freiem Himmel. Menschen und Pferde leiden unsagbar.
Meine Tante erzählte mir ergänzend hierzu:
Diese Überfahrt auf dem Eis war grauenhaft. Links und rechts von der auf dem Eis abgesteckten Fahrtroute lagen weggeworfene Sachen, erschossene Pferde, ganze Wagen, die durch die Eisdecke gebrochen waren, wo nur noch die Köpfe der toten Pferde aus dem Eis ragten. Auch die durch die Angriffe der Tiefflieger erschossenen Flüchtlinge lagen neben der Fahrtroute - ein Grauen, das sich heute kein Mensch mehr vorstellen kann.
Das Eis des Frischen Haffs war teilweise durch die große Belastung unter die Wasseroberfläche gedrückt worden, und ein Spalt trennte uns von dem am Ufer festgefrorenen Eis, das etwa 40 cm höher lag. Hinter diesem schmalen Eisrand war eine steile Böschung. Diese trennte uns von dem rettenden Weg nach Westen. Ich nahm alle Kraft zusammen, schickte ein Stoßgebet zum Himmel, schlug auf die Pferde ein, und vorwärts ging es. Die Pferde brauchten weiter keinen Ansporn mehr. Als wenn sie geahnt hätten, dass es auch für sie auf Leben und Tod ging, übersprangen sie den offenen Eisspalt, legten sich in die Sielen und erklommen mit dem schweren Wagen die Böschung und erreichten so die Frische Nehrung und damit den Weg nach Westen. Von nun an ging es, nur mit geringen Pausen in Richtung Weichsel, die wir am 12. Februar erreichten. Es schneite und regnete. Nachts um 24 Uhr überquert der Treck mit einer Fähre die Weichsel. Aber die sowjetischen Truppen wurden durch diesen Fluss nicht lange aufgehalten. Oft bestand der Abstand zu den vorstoßenden Panzerspitzen nur wenige hundert Meter, und oft fuhren die Panzer parallel zum Flüchtlingstreck in wenigen Kilometern Abstand.
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Donnerstag, 8. Februar 1945:
Wir wollen weiter, aber die Straße auf der Nehrung ist total verstopft. Von Danzig kommen viele Soldaten und wir müssen anhalten. Wir nächtigen unter freiem Himmel auf einem freien Platz. Wir kochen Kaffee vom Schneewasser mit grünem Reisig. Jeder sieht zu, wie und wo er etwas kochen kann.
Freitag, 9. Februar 1945:
Wir fahren über die Dünen am Ostseestrand entlang. Die Pferde sind durchgefroren und das Futter geht langsam zu Ende. Die Wagenräder mahlen im Seesand. Die armen tragenden Tiere sind bedauernswert, aber man kann ihnen nicht helfen, nur immer vorwärts! Es ist außer dem Ort Kahlberg keine menschliche Behausung in Sicht. Wir sind wie in der Wüste. Viele haben kein Brot mehr. Die Not bricht an. Wir sind 101 Personen auf 13 Wagen.
Sonnabend, 10. Februar 1945:
Wir haben kurz vor Abend das erste westpreußische Dorf Steegen-Stuthof erreicht. Die Leute sind sehr abstoßend zu uns und nehmen uns nicht auf. Sie schicken uns von einem Ort zum andern, bis wir endlich nachts gegen 11 Uhr Unterkunft in einem Kuhstall zugewiesen bekommen. Der Bauer dieses Hofes beschimpft uns. In seine Dunggrube kippt mein Wagen und bleibt so bis zum nächsten Morgen liegen. Nachbarwagen werden bestohlen. Wir merken, dass wir nicht mehr in Ostpreußen sind.
Sonntag, 11. Februar 1945:
Wir werden von dem Bauern vom Hof getrieben und fahren den ganzen Tag. Zum Abend kommen wir zu einem Bauern in ein gutes Quartier. Auch unsere Pferde kommen in der Scheune unter und können endlich eine Nacht ruhen.
Montag, 12. Februar 1945:
Morgens geht es weiter. Die Straßen sind verstopft, und es schneit und regnet. Die Pferde sind unruhig und frieren. Nachts um 12 Uhr sind wir an der Weichsel, es ist dunkle Nacht. Eine Fähre setzt den endlosen Flüchtlingsstrom ans westliche Ufer über. Wir fahren eine kurze Strecke durch tiefen Morast und nächtigen unter freiem Himmel.
Dienstag, 13. Februar 1945:
Wir fahren weiter: Danzig - Praust, Danzig - Ohra. Wir kommen bis Rottmannsdorf und schlafen in einem Schafstall bei den Schafen. Es regnet und stürmt. Die Pferde sind in einer Scheune. Wir empfangen pro Pferd drei bis vier Pfund (1,5 bis 2 kg) Hafer täglich.
Mittwoch, 14. Februar 1945:
Es ist bald Mittag. Wir müssen weiter. Abends kommen wir in ein Dorf, wo wir in der Schule Unterkunft finden. Die Pferde sehen von all den Strapazen schon abgemagert aus.
Donnerstag, 15. Februar 1945:
Wir fahren weiter. Abends wird unser Treck auf zwei Dörfer verteilt. Die Leute (Kaschuben) sprechen unter sich polnisch (vermutlich kaschubisch) und sind sehr abweisend zu uns.
Freitag, 16. Februar 1945:
Wir werden auf Umwege abgeleitet. Die gute Straße ist für die Wehrmacht reserviert. Wir fahren schlechte, bergige und glatte Wege. Die Pferde fallen auf die Knie, sie schaffen die Wagen kaum, aber es geht immer weiter. Zur Nacht sind wir auf einem Gut. Am Morgen graut uns schon vor dem Abend, weil wir nicht wissen, wo wir wieder landen werden.
Sonnabend, 17. Februar 1945:
Wir verlassen Westpreußen und erreichen das erste Dorf in Pommern. Die Wagen werden auf der Straße ausgespannt und die Pferde kommen in einer Scheune unter. Die Menschen sind freundlicher zu uns. Ich komme mit meinem Sohn Werni bei der Inspektorenfamilie unter. Das erste Mal haben wir nach vier Wochen Gelegenheit, uns zu waschen. Wir haben uns sonst nur mit Schnee Hände und Gesicht gewaschen.
Sonntag, 18. Februar 1945:
Wir müssen weiter und kommen zum Abend nach der SS-Siedlung Ruhnow. Wir haben die ersten Läuse. Arthur und Irene Kirstein kommen ins Krankenhaus Stolp. Piorrs Stute verwirft und wir bleiben über Montag (den 19. Februar) hier. Ich bade mich und Werni, damit wir die Läuse los sind.