Joseph Conrads Schiffe und Seefahrten
Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers durch S. Fischer Verlag entnommen dem Werk ‚Joseph Conrad, Der Tragiker des Westens’
aus von Hermann Stresau – Berlin 1937
(S. = Segelschiff, D. = Dampfer)
1875 – S „MONTBLANC“: Marseille – Westindien (Martinique, St. Thomas) – Le Havre – 25.06.1875 – 24.12.1875
1876-77 S „ST ANTOINE“ – Marseille – St. Pierre, St. Thomas, Port au Prince – Nordküste Südamerikas (Venezuela) – Marseille – 10.07.1876 – 15.02.1877
1877 – S „TREMOLINO“ – Fahrten zwischen Marseille und Barcelona – In Erinnerung an dieses Schiff schrieb Joseph Conrad nachfolgende Erzählung:
Die „TREMOLINO“
Die „TREMOLINO“
Es stand geschrieben, dass ich im Mittelmeer, in der Kinderstube unserer Seefahrerahnen, lernen sollte, auf den Wegen meines Berufes zu wandeln und zuzunehmen in der Liebe zur See. Meine Liebe war blind, wie junge Liebe es oft ist, aber verzehrend und selbstlos, wie alle wahre Liebe sein muss. Ich verlangte nichts von ihr, nicht einmal Abenteuer. Darin zeigte ich vielleicht mehr unbewusste Weisheit als hohe Selbstverleugnung. Abenteuer stellen sich nicht auf Verlangen ein. Wer auszieht, um mit Vorbedacht Abenteuer zu suchen, wird erleben, dass er nur Früchte findet, die beim Pflücken in Staub zerfallen, es sei denn, die Götter liebten ihn und er wäre groß unter den Helden wie der vortreffliche Ritter Don Quijote de la Mancha. Aber wir gewöhnlichen Sterblichen mittelmäßiger Gesinnung, die nur allzu beflissen sind, böse Riesen als ehrliche Windmühlen anzusehen, nehmen die Abenteuer wie Engelserscheinungen auf. Plötzlich und unvermittelt wird unser Behagen von ihnen gestört. Sie kommen, wie ungebetene Gäste es gerne tun, oft zu ungelegenen Zeiten. Und wir sind froh, sie unerkannt und ohne Dank für die hohe Gunst wieder ziehen zu lassen. Wenn man nach vielen Jahren von der mittleren Biegung des Lebensweges aus zurückschaut auf die Ereignisse der Vergangenheit, die uns als ein freundliches Gedränge nachzusehen scheinen, indessen wir eilends dem kimmerischen Ufer zustreben, so mögen wir hier und dort in der grauen Menge eine in schwacher Ausstrahlung glühende Gestalt erkennen, auf die sich scheinbar alles Licht unseres schon abendlichen Himmels vereinigt hat. Und an dieser Glut erkennen wir unsere wirklichen Abenteuer, diese einstmals ungebetenen Gäste, die wir in unserer Jugend unversehens aufgenommen haben.
Wenn das Mittelmeer, die ehrwürdige (und manchmal schrecklich missgelaunte) Kinderfrau aller Seefahrer, meine Jugend wiegen sollte, so wurde die Beschaffung der für diese Operation nötigen Wiege durch das Geschick dem zufälligsten Haufen unverantwortlicher junger Leute (immerhin waren sie alle älter als ich) anvertraut, die in frohem Leichtsinn und wie betrunken vom provençalischen Sonnenschein das Leben nach dem Muster von Balzacs Histoire des Treize (Die Geschichte der Dreizehn) vertändelten, wozu denn noch ein Schuss Romantik de cape et d'epJe (von Verwegeneren) kam.
Das Schiff, das meine Wiege war in diesen Jahren, war am Flusse Savona von einem berühmten Schiffbauer gezimmert worden, getakelt hatte es ein anderer tüchtiger Mann in Korsika, und in seinen Papieren war es als Tartane von sechzig Tonnen beschrieben.
Balancelle
In Wirklichkeit war es eine richtige Balancelle mit zwei kurzen, nach vorn geneigten Masten und zwei gebogenen Rahen, die jede die Länge des Rumpfes hatten; sie war ein rechtes Kind des Lateinischen Meeres, ihre beiden riesigen Segel ähnelten den spitzen Schwingen am schlanken Rumpf eines Seevogels, und sie hatte auch wirklich etwas von einem Vogel, wenn sie so leicht über die Wogen hinstreifte, statt sie zu durchschneiden.
Sie hieß „TREMOLINO“. Wie ist das zu übersetzen – der Bebende? Was für ein Name für das tollkühnste kleine Fahrzeug, dessen Seiten jemals in zornige Gischt eintauchten! Es ist wahr, ich habe sie tage- und nächtelang unter meinen Füßen zittern gefühlt, aber das rührte nur von der angespannten Straffheit ihres treuen Mutes her. Sie hat mich in ihrer kurzen, aber glänzenden Laufbahn nichts gelehrt, aber sie hat mir alles gegeben. Ich schulde ihr das Erwachen meiner Liebe zur See, die sich beim Beben ihres schnellen kleinen Körpers und beim Summen des Windes am unteren Liek ihrer Lateinersegel mit sanfter Gewalt in mein Herz stahl und mein Denken unter ihre despotische Herrschaft brachte. Die TREMOLINO! Ich kann bis zum heutigen Tage diesen Namen nicht aussprechen und nicht einmal niederschreiben, ohne dass mir die Brust seltsam eng wird und mir vor der Lust und Scheu meiner ersten empfindsamen Leidenschaft der Atem stockt.
Wir vier bildeten (um ein Wort zu gebrauchen, das heutzutage jeder Gesellschaftsschicht geläufig ist) ein „Syndikat“, dem die TREMOLINO gehörte: ein internationales und erstaunliches Syndikat. Und wir waren alle glühende Royalisten der schneeweißen legitimistischen Richtung – der Himmel allein weiß warum! In allen menschlichen Gemeinschaften findet sich gewöhnlich einer, der ihr durch die Autorität des Alters und der größeren Lebenserfahrung einen Gesamtcharakter verleiht. Wenn ich erwähne, dass der Älteste von uns sehr alt, äußerst alt war – beinahe dreißig Jahre alt – und dass er in ritterlicher Unbekümmertheit zu erklären pflegte: „Ich lebe von meinem Schwerte“, so meine ich, über den Stand unserer Lebensweisheit hinreichend Auskunft gegeben zu haben. Er war ein Gentleman aus Nord-Carolina, J. M. K. B. waren die Initialen seines Namens, und er lebte, soviel ich weiß, wirklich von seinem Schwerte. Er starb auch später durch das Schwert, und zwar bei irgendeiner Balgerei auf dem Balkan um der Sache einiger Serben oder Bulgaren willen, die weder Katholiken noch Gentlemen waren – jedenfalls nicht in dem erhabenen, aber genauen Sinne, den er mit diesem letzten Wort verband.
Armer J. M. K. B., Américain, Catholique et gentilhomme, wie er sich in gehobenen Augenblicken selbst zu bezeichnen liebte. Ich möchte wohl wissen, ob heute in Europa noch Gentlemen zu finden sind, die ein tadelloses Aussehen, kühne Gesichter und elegante, schmale Gestalten, die bezaubernd höfliche Manieren und einen düsteren, schicksalsschweren Blick haben und von ihrem Schwerte leben. Seine Familie war, glaube ich, im Bürgerkrieg ruiniert worden und führte in der Alten Welt ein wanderndes Leben. Henry C…, der Nächste an Alter und Weisheit in unserer Schar, war vor der unbeugsamen Starrheit seiner Familie ausgerissen, die, wenn ich mich recht erinnere, in einem reichen Vorort Londons fest eingewurzelt war. Auf ihr beachtliches Ansehen hin stellte er sich Fremden leutselig als „schwarzes Schaf“ vor. Ich habe niemals einen harmloseren Ausgestoßenen gesehen. Niemals.
Immerhin waren seine Leute so gnädig, ihm dann und wann ein wenig Geld zu schicken. Er war in die Provence und den ganzen Süden verliebt, in seine Menschen, sein Leben, seinen Sonnenschein und seine Dichtung; engbrüstig, lang und kurzsichtig durchschlenderte er die Straßen und Gassen, warf seine langen Beine dem Körper weit voraus und hatte seine weiße Nase und den roten Schnurrbart in ein aufgeschlagenes Buch vergraben, denn er pflegte im Gehen zu lesen. Wie er es fertigbrachte, weder Abhänge noch Treppen oder Kais hinabzustürzen, ist ein großes Geheimnis. Die Seiten seines Mantels beulten sich vor lauter Taschenausgaben verschiedener Dichter. Wenn er nicht damit beschäftigt war, in Parks, Restaurants, Straßen und an ähnlichen öffentlichen Plätzen Virgil, Homer oder Mistral zu lesen, verfasste er Sonette (auf französisch) über die Augen, die Ohren, das Kinn, die Haare und andere sichtbare Vollkommenheiten einer Nymphe namens Therese, der Tochter, wie mich die Ehrlichkeit festzustellen zwingt, einer gewissen Madame Leonore, die ein kleines Matrosencafe in einer der engsten Straßen der Altstadt betrieb.
Ein reizenderes Gesicht, klar wie eine antike Gemme und in den Farben so köstlich wie Blumenblätter, war niemals auf einen, ach! einen etwas untersetzten Körper gepflanzt worden. Er las ihr in dem Café seine Verse mit der Unschuld eines Kindes und der Eitelkeit eines Dichters laut vor. Wir folgten ihm recht gerne dorthin, sei es auch nur, um die göttliche