Ich eilte weiter und klopfte schließlich an der Tür zum Sektionsraum. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, trat ich ein. Dr. Habermann diktierte gerade etwas in sein Aufnahmegerät und schaute kurz zu mir herüber. Sein Gehilfe, Wilbert Kronauer, stand am Kopfende des Seziertisches und schien abzuwarten, was weiter geschehen würde. Habermann legte das Gerät auf dem kleinen Beistelltisch ab und gab mir wortlos ein Zeichen, näherzutreten.
„Ich frage mich, warum der Täter dieser Frau den Mund zugenäht hat“, begann Habermann und ich schwieg erwartungsvoll. „Sie hätte ohnehin keinen Laut von sich geben können.“
„Dann war sie also schon tot, als er ihr den Mund zunähte“, folgerte ich und war erstaunt, als Habermann den Kopf schüttelte.
„Nein, sie hat noch gelebt, aber er hat ihr etwas angetan, was ich in meiner ganzen Zeit als praktizierender Pathologe noch nie erlebt habe. Dieser Mensch muss ein Scheusal sein. So viele Leiden, die diese Frau durchgemacht hat.“
„Nun reden Sie schon!“, drängte ich.
Habermann ging zum Seziertisch und ich folgte ihm automatisch. Vor uns lag die Leiche der Frau, die Habermann nach meinem Weggehen fertig obduziert hatte. Die Schnitte waren inzwischen grob vernäht, eine Arbeit, die offensichtlich Kronauer erledigt hatte. Doch als ich näher hinsah, stellte ich fest, dass der Halsbereich noch keine Naht erhalten hatte. Der Kopf der Toten war nach hinten überdehnt, um einen besseren Einblick zu haben. Speise- und Luftröhre lagen frei, genau wie alle Organe, die sich im Hals- und Mundbereich befanden. Den Mund hatte Habermann weit geöffnet und mit einer Klammer arretiert, die gleichzeitig die Zunge nach unten presste. So war ein besserer Einblick in die Mundhöhle gewährleistet.
„Ich habe es auf den ersten Blick nicht sehen können und fast wäre mir ein fataler Fehler unterlaufen“, sagte Habermann und es erstaunte mich, dass es auch Menschen in einer solchen Position gab, die einen Fehler unumwunden zugaben.
„Sehen Sie her! Obwohl, ich weiß nicht, ob Sie als Laie etwas erkennen können. Um es kurz zu machen: Man hat dieser Frau die Stimmbänder gekappt.“
„Die Stimmbänder gekappt?“ Ich verstand nicht, was er meinte.
„Durchschnitten. Man hat die Stimmbänder durchtrennt und so alle Kommunikation zu ihrer Umwelt unmöglich gemacht.“
„Aber … warum? Ich meine, was ist der Sinn dabei? Die Frau ist tot. Mit wem hätte sie denn noch kommunizieren können?“ Es war so ungeheuerlich, was Habermann mir offenbarte, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich sah in das Gesicht der Toten, das fahl und bleich mit geschlossenen Augen und trotz der grotesken Kopflage einen eher friedlichen Eindruck machte.
„Das herauszufinden ist Ihre Aufgabe, Herr Thalbach. Aber ich glaube, hier ist einiges an Psychologie gefragt. Dieser Mörder ist anders gestrickt als die meisten, scheint mir. Den Grund für sein Handeln werden sie nur in seiner Psyche finden, davon bin ich überzeugt. Ich kann nur hoffen, dass dieser Mord ein Einzelfall bleibt.“
Ich erinnerte mich an den Anruf von Laufenberg. „Mutmaßlich ist die Identität dieser Frau geklärt. Mein Kollege hat es mir vorhin mitgeteilt. Aber da ist noch was. Wir haben eine weitere vermisste Frau. Die Ehefrau eines Arztes, der hier in diesem Krankenhaus beschäftigt ist. Da sei Gott vor, dass sich das hier wiederholt.“
Kapitel 15
Vera starrte auf die Tür, die sich langsam schloss und saugte das Licht auf, das von außen hereinschien und sich mit dem Schließen der Tür reduzierte, bis es gänzlich erloschen war.
Während dieser kurzen Zeit hatte sie sehen können, was der Unbekannte ihr in ihr Verlies auf den Fußboden geworfen hatte: ein aus Textilien bestehendes zusammengeschnürtes Paket. Nun, da es wieder dunkel im Raum war, tastete sie sich zu dem Paket und fühlte mit ihren Händen darüber. Das Paket war verschnürt, die Schnur aber lediglich mit Schlaufe und einem Knoten versehen. Mit zitternden Händen nestelte sie so lange daran, bis sie das Seil lose in ihren Händen hielt.
Sie tastete über den Inhalt und das erste, was sie zu erkennen glaubte, war eine Wolldecke. Sie konnte etwas gegen die Kälte in diesem Raum tun! Ihre verhaltene Freude steigerte sich, als sie die anderen Teile ertastete. Es waren Kleidungsstücke. Ihre eigenen! Eine Hose, ein Pullover und sogar Wollsocken waren darunter und als sie die Kleidungsstücke einzeln erfühlt und vor sich wieder auf dem Boden abgelegt hatte, fielen zwei Gegenstände vor ihr auf die Erde, die sie als ein Paar ihrer Schuhe identifizierte.
Es dauerte nur wenige Minuten, da hatte sich Vera angekleidet und saß, in die Wolldecke eingewickelt, zusammengekauert am Boden.
Was hatte der Unbekannte mit ihr vor? Dass es ein Mann war, davon war sie inzwischen überzeugt. Haltung und Gang und auch die Statur im Gegenlicht der geöffneten Tür ließen für sie keinen Zweifel daran.
Veras Gedanken begannen sich zu überschlagen. Wenn er ihr Kleidung brachte, die zudem noch ihre eigene war, musste er sie in ihrer Wohnung überrascht und anschließend entführt haben. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht erinnern. Offensichtlich hatte er nicht die Absicht, sie umzubringen, zumindest nicht hier. Vielleicht wollte er sie fortbringen, an einen anderen Ort. Vielleicht deshalb die Kleidung.
Wo bin ich hier?
Im Schein des Lichts der sich öffnenden Tür hatte sie festgestellt, dass der Raum hell gekachelt war. Irgendwelche Möbel hatte sie nicht sehen können, lediglich eine Tür im hinteren Bereich. Ansonsten war die Zeit zu kurz gewesen, um nähere Erkenntnisse zu gewinnen.
Aber ich kann mich doch frei bewegen, dachte sie und stützte sich auf Händen und Knien auf dem Boden ab. Langsam schob sie sich nach oben, bis sie mit dem Kopf gegen etwas Hartes stieß. Sie ertastete es als metallenes Gerüst in der Art eines Tisches. Ihre Hand glitt nach oben und fuhr über die Oberfläche des Gestells. Es war der Tisch, auf dem sie gefesselt wach geworden war.
Sie rutschte auf Knien um den Tisch herum in die Richtung, wo sie die Tür vermutete, die sie im Licht für einen kurzen Moment erblickt hatte. Als sie sie mit ihren Händen erfühlen konnte, erhob sie sich langsam und ihre Hand tastete nach der Türklinke.
Die Tür war nicht verschlossen und Vera drückte sie nach innen auf.
Licht! Vielleicht funktioniert die Beleuchtung in diesem Raum, dachte sie flehend und ihre Hand suchte die Innenwand dort ab, wo sich normalerweise Lichtschalter befinden. Rasch fand sie einen und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den Kippschalter betätigte.
Wenn sie nun erwartet hatte, sich in einem hell erleuchteten Raum wiederzufinden, sah sie sich getäuscht. Mehr als ein diffuses Licht an der Decke, gerade so hell, dass sie sich zurechtfinden und die Einrichtung des Raumes erkennen konnte, war da nicht. Das, was sie sich erhofft hatte, zerplatzte wie Seifenblasen. Der Raum hatte keine weitere Tür. Es gab auch hier kein Fenster, keine Möglichkeit zur Flucht. Der Raum war eine Art Bad, versehen nur mit einem Waschbecken und einer Toilette. Es gab keinen Schrank, keine Kosmetikartikel, keine Dinge, die man hätte als Werkzeug benutzen können. Aber es gab eine Pritsche an der Wand gegenüber dem Waschbecken. Diese war aus stabilem Holz, die Bretter der Auflagefläche waren verschraubt und die Schrauben im Holz versenkt. Auf den hölzernen Planken lag eine Matratze, etwa zehn Zentimeter dick, in eine braune Wolldecke eingeschlagen.
Ihre Enttäuschung schlug um in eine leise Freude über das Vorhandensein der Toilette, außerdem über die Gelegenheit, ihren Körper auszustrecken und in eine warme Decke zu hüllen. Wenigstens konnte sie ansatzweise menschenwürdig ihr Dasein in ihrem Gefängnis gestalten. An der Wand bemerkte sie einen Heizkörper, doch sie musste ihn nicht berühren, um zu