Habermann schien zu bemerken, dass ich mir über seinen Gehilfen Gedanken machte. „Sie vermissen Paulsen? Ein guter Mann. Aber er ist zurzeit krankgeschrieben. Irgendwas mit den Augen. Das wird sicher wieder. Wilbert Kronauer macht das ebenso gut.“
Ich nickte und eigentlich interessierte es mich nicht besonders, wer hier die Obduktionen durchführte oder als Gehilfe begleitete. Habermann dagegen hatte an Kronauer offensichtlich einen Narren gefressen und arbeitete vielleicht sogar lieber mit ihm zusammen.
Ich beobachtete den Gehilfen bei den Vorbereitungen für seine Arbeit, während Habermann in seinem grünen Kittel noch neben mir stand, ohne Anstalten zu machen, sich in die Tätigkeiten seines Assistenten einzuschalten.
Kronauer legte sich die Instrumente zurecht. Sein Alter war für mich irgendwie genauso undefinierbar wie das von Habermann. Er war nicht sehr groß, dafür kräftig, ohne Bauch. Das Gesicht hatte eine fahle Oberfläche unter seinem glatten, nach hinten gekämmten dunklen Haar.
Habermann zog mich beiseite. „Lassen wir ihn die Vorarbeiten machen. Kronauer ist darin richtig gut“, sagte er, während wir etwas zurückwichen.
Kronauer hatte sich Handschuhe übergezogen und war nun dabei, mit einem Messer die Kopfhaut der Toten von einem Ohr zum anderen aufzutrennen, um dann den Skalp vom Schädel zu lösen. Nicht komplett, den Bereich über der Stirn ließ er unversehrt, denn nun konnte er mit etwas Kraft die Kopfhaut nach vorne über das Gesicht ziehen und sie unter dem Kinn der Toten verankern. Eine blutige Fläche anstelle eines Gesichts war schon ein makabrer Anblick. Die blutverschmierte Schädeldecke lag nun sichtbar frei.
Dann griff er nach einer kleinen Kreissäge, ähnlich einem Winkelschleifer, allerdings war sie mit zahlreichen kleinen Sägezähnen versehen.
„Das da ist Routinearbeit, das kennen Sie ja“, raunte mir Habermann zu, während ein schrilles Geräusch bestätigte, dass Kronauer die Säge in Betrieb gesetzt hatte. Als sich das Sägeblatt durch die Schädeldecke fraß, wechselte das schrille Geräusch in einen tieferen Ton, wobei der Grad der Unannehmlichkeit noch gesteigert wird. Kronauer zog mit der Säge seine Bahn um den gesamten Kopf, um schließlich mit einem leichten Ruck das losgelöste Oberteil des Schädels abzuheben. Sichtbar wurde nun das freiliegende Gehirn, das mit einer leichten Blutschicht umgeben war.
Kronauer trat mit einem Blick auf seinen Chef vom Tisch zurück und wartete offensichtlich auf weitere Anweisungen.
„Dann wollen wir mal“, sagte Habermann und machte eine einladende Kopfbewegung in meine Richtung, während er auf den Seziertisch zuging Ich nahm meine Fotokamera aus der Tragtasche und folgte ihm.
Alles, was Habermann nun tat, hielt ich im Bild fest. Obwohl mir die Szenarien in allen Einzelheiten vertraut waren, war es für mich immer wieder eine bewegende Angelegenheit, wobei da auch heute noch, nach so langer Dienstzeit, meine Emotionen von Fall zu Fall verschieden sind. Es macht schon einen Unterschied, ob auf dem kalten Tisch ein erwachsener Mensch liegt oder ob es gar ein Kind oder sogar ein Säugling ist, dem man unter Umständen Gewalt angetan hat.
Habermann wandte sich dem offenen Schädel zu und umfasste mit der linken Hand eine Gehirnhälfte, glitt mit der rechten Hand in den Schädel und verschaffte sich so Platz, um mit einem langen Messer das Zentrum des Lebens vom Stammhirn zu trennen. Schließlich hielt er das handballgroße Gebilde in seiner linken Hand. Kronauer eilte mit einem Behälter voll Wasser herbei und goss ihn langsam über dem Gehirn aus, während Habermann es über dem Abfluss des Sektionstisches vom Blut befreite.
In der rechten Hand hielt Habermann noch immer das scharfe Messer, mit dem er das Gehirn herausgetrennt hatte. Damit schnitt er, den festen Klumpen weiter in seiner Hand haltend, einige zentimeterdicke Streifen davon ab, die er Kronauer zum Verstauen in eine der beschrifteten Plastikdosen übergab. Eine Untersuchung des Gehirns ist genau wie die Untersuchung aller anderen Organe eine reine Routine-Maßnahme und Bestandteil jeder Obduktion, um eventuelle Krankheitsherde oder aber abweichende Todesursachen wie die ursprünglich vermuteten auszuschließen. Ich dokumentierte es fotografisch.
Habermann gab seinem Gehilfen ein Zeichen und reichte ihm das Gehirn, das Kronauer wieder im Schädel der Toten platzierte. Dann brachte dieser auch die Schädeldecke wieder an ihren Platz und legte die Kopfhaut darüber. Später, nach Beendigung der Obduktion, würde er die Kopfschwarte wieder vernähen.
Was nun geschah, das behielt sich der Obduzent selbst vor, während Kronauer abwartend danebenstand.
„Kommen Sie!”, hörte ich Habermann sagen und er sah in meine Richtung. Er zeigte auf das Gesicht der Toten und ich wusste, was er meinte. Ich fotografierte den zugenähten Mund und die geschlossenen Augen.
Wer ist dieses Ungetüm, das zu solchen Taten fähig ist?
Die Frage, die sich mir seit dem Auffinden der Leiche immer wieder aufdrängte, war auch jetzt gegenwärtig.
Wird es weitere Opfer geben? Hat dieses Monster weiter gemordet und wir haben die Leichen bisher nur nicht gefunden?
Das Klappern von den Instrumenten auf dem kleinen Wagen schreckte mich aus meinen Gedanken. Habermann begann, mit einem Skalpell vorsichtig die Fäden zu durchschneiden, die sich durch Ober- und Unterlippe schlängelten und tief in das Fleisch eingedrungen waren. Er tat dies an drei verschiedenen Stellen und fing an, die zerteilten Fäden mit Daumen und Zeigefinger einzeln vorsichtig herauszuziehen.
„Solches Material verwenden Ärzte, zweifellos”, sagte er und hielt einen der Fäden vor mein Gesicht. „Wir haben hier einen nicht resorbierbaren Faden.“
„Und das bedeutet?“
„Das heißt, dieser Faden ist eigentlich für einen zeitlich begrenzten Raum gedacht, weil er ein Entzündungsrisiko darstellt, falls er unnötig lange im Körper eines Menschen verbleibt.”
„Was in unserem Falle doch eher eine untergeordnete Rolle spielt”, warf ich ein und erntete ein ärgerliches Stirnrunzeln.
„Auch ein Kriminalbeamter des gehobenen Dienstes kann noch dazulernen”, brummte Habermann. „Zumindest können Sie, falls das Thema irgendwann mal angesprochen wird, mitreden. Sehen Sie das, was ich Ihnen so nebenher erzähle, als eine kostenfreie Lektion an.”
Ich tat es und schwieg.
Habermann hatte nun alle Fäden gezogen und öffnete den Mund der Toten. Die Zunge erschien mir geschwollen und an der Spitze verletzt. Bevor ich Habermann fragen konnte, kam die Erklärung.
„Sie wird sich in ihrer Panik und dem Versuch, den Faden mit der Zunge zu lösen, die Verletzungen zugezogen haben. Vielleicht hat sie sich auch darauf gebissen. Warten Sie!”
Habermann leuchtete mit einer winzigen Taschenlampe in die Nasenöffnungen und nickte.
„Sie hat eine erhebliche Nasenscheidewand-Krümmung. Offensichtlich hat sie unter normalen Umständen schon Probleme mit der Atmung gehabt. Nach dem Zunähen des Mundes wurde dieses Problem so groß, dass Panik die Folge war.”
„Dann hat man ihr also den Mund zugenäht, als sie noch lebte”, stellte ich schockiert fest. „Glauben Sie, man hat sie für diese ... Maßnahme betäubt?”
Habermann bückte sich über das Gesicht der Toten, als suchte er nach etwas.
„Ich kann keine Einstichstellen für eine Injektion feststellen”, sagte er schließlich. „Ob irgendwelche Barbiturate eine Rolle spielen, kann ich erst nach Untersuchung der Proben des Blutes sagen.
Dann wandte er sich den Hämatomen am Hals zu, tastete sie ab, bewegte den Kopf der Toten in alle Richtungen und drückte schließlich mit einem Holzstäbchen die Zunge nach unten, um mit der Lampe ins Innere des Rachenraumes zu sehen.
„Keine Besonderheiten zu erkennen”, sagt er kurz. „Ich werde in die Tiefe sezieren müssen.“
Nun hob er mit einem Finger die Augenlider der Toten nach oben. „Punktuelle Einblutungen”,