Darauf viel Carla nichts ein. Da stand sie nun in ihrer eigenen Galerie, bei ihrer eigenen Ausstellungseröffnung einer offensichtlich flirtenden, attraktiven Frau gegenüber, und darauf fiel ihr nichts ein.
„Hm“, war alles, was Carla zustande brachte, was tatsächlich nicht viel war. Sie konnte unmöglich schon wieder die Flucht ergreifen und diese Frau einfach mitten im Gedränge stehen lassen wie am Abend zuvor. Und weil ihr weder etwas einfiel noch die Flucht eine ernsthafte Möglichkeit war, also quasi aus der Not heraus, stand sie einfach nur da und schaute Annabell an. Carla hätte in einem anderen Moment durchaus gewusst, dass einfach nur schauen manchmal effektiver ist, als wenn einem irgendetwas einfällt. Aber jetzt, in diesem Moment, war sie von jedweder Taktik weit entfernt.
Aus dem einen Moment wurden ein paar Momente, in denen sich die beiden Frauen nur anschauten. Wie eine plötzliche, ganz körperliche Gewissheit traf es Carla, dass der nächste logische Schritt, der jetzt eigentlich folgen müsste, der wäre, sich zu dieser Frau hinzubeugen, ihren Arm oder ihre Schulter zu fassen und sie zu küssen. Es war, als hätte sich allein aus diesem Blick eine bestimmte Konsequenz ergeben, die auf einmal so einleuchtend und klar erschien, dass es schwer möglich war, irgendeine alternative Handlung auszuführen. Und Carla nahm an, dass nicht nur ihr allein das klar war.
Fast gewaltsam versuchte Carla, sich aus dieser Situation zu lösen, als sie jetzt sagte: „Ich muss mich ein bisschen um die anderen Gäste kümmern, aber gehen Sie nicht, ohne sich zu verabschieden. Bitte.“
Bei den letzten Worten hatte sie Annabell wieder direkt angesehen. Annabell nickte nur, wie in einem stummen Einverständnis.
Die nächsten Stunden vergingen schnell. Carla redete viel, begrüßte und verabschiedete, stellte Leute einander vor, vereinbarte Termine mit potentiellen Käufern und besiegelte sogar einen Verkauf schon per Handschlag mit einem Kunden, der noch nicht lange zu Carlas Käufern gehörte, dafür aber im letzten halben Jahr erstaunliche Summen in junge Künstler investiert hatte und nicht wenig davon in Künstler, die Carlas Galerie vertrat.
Irgendwann, als es schon spät war, drehte sich Carla zur Eingangstür um und sah Annabell dort stehen, als hätte sie schon eine ganze Weile in Carlas Richtung gesehen. Als Carla ihren Blick jetzt erwiderte, lächelte Annabell nur, erhob die Hand, winkte Carla zu und war schon im Begriff, aus der Tür zu verschwinden. Carla war schnell am Eingang. Es war nicht mehr allzu voll mittlerweile, und die verbliebenen Gäste waren entweder betrunken oder sie standen in kleinen Gruppen zusammen und waren in Gespräche vertieft. Annabell war gerade ein paar Meter gegangen, als Carla aus der Tür trat.
„Warten Sie!“, rief Carla ihr hinterher. Carla lächelte, während sie Annabell jetzt entgegenging. „Sie wollten sich doch von mir verabschieden.“
„Sie wollten, dass ich mich von Ihnen verabschiede“, sagte Annabell mit dieser warmen Stimme, die Carla noch nie freundlicher vorgekommen war als in diesem Moment. „Und außerdem habe ich mich doch verabschiedet.“
„Sie haben mir zugewunken, das ist doch keine Verabschiedung.“
Und jetzt tat Carla tatsächlich das, was ihr schon Stunden vorher als so logisch und unabwendbar erschienen war, als hätten sie beide die letzten Stunden einfach übersprungen. Es war ein Kuss, an dem Carla sofort merkte, dass das Küssen nur eine von verschiedenen körperlichen Möglichkeiten war, die sich alle gut anfühlen würden.
Der Kuss war lang. Lang genug, um das, was folgen könnte, sehr deutlich zu machen.
Als Carla sich jetzt von Annabell löste, sagte sie: „In spätestens zwei Stunden ist das alles hier vorbei, das heißt in ungefähr drei Stunden bin ich bei mir zuhause. Wenn Sie mich dann noch besuchen wollen, können wir genau damit weitermachen.“
Carla wusste, dass das ein gewagtes Angebot war. Die Möglichkeit, dass Annabell Nein sagte war wesentlich größer als alles andere. Welche Frau hätte da schon Ja gesagt.
Annabell sagte zumindest nicht direkt Nein. Sie lachte wieder nur und sagte schließlich: „Wir werden sehen, und außerdem glaube ich, wir können jetzt Du sagen.“
Nachdem Carla Annabell ihre Adresse gegeben hatte und wieder in ihrer Galerie verschwunden war, schaffte sie es nicht, sich in den folgenden Stunden zu entscheiden, ob sie voll aufgeregter Erwartung sein sollte oder ob es nicht doch sehr viel angemessener wäre, sich mit einem ruhigen, letzten Glas Sekt alleine auf ihrem Sofa abzufinden. Die aufgeregte Erwartung überwog über weite Strecken, obwohl es Carla besser hätte wissen müssen.
Und tatsächlich fand sie sich fast drei Stunden später genau so auf ihrem Sofa wieder, wie es ihr der vernünftige Teil ihres Gehirns vorhergesagt hatte. Allein in der ruhigen Wohnung, ein Glas Champagner statt Sekt. Der Abend und Carlas Anstrengung verdienten schließlich Qualität, und mit Qualität ließ sich auch besser die Einsicht in das Unvermeidliche verkraften, dass es genau so gekommen war, wie es zu vermuten gewesen war, und deshalb auch jede Enttäuschung überflüssig war.
Carla erschrak beim ersten Klingeln. Beim zweiten, das direkt folgte, hatte sie ein bisschen Champagner verschüttet und stand bereits an der Tür.
Es war nicht nötig, irgendetwas zu sagen. Es war auch nicht nötig, ein Gespräch zu beginnen oder irgendetwas zu tun, was die Fortführung dieses einen Kusses hinausgezögert hätte.
Der zweite Kuss folgte schnell und noch viele weitere. Berührungen, Körper, Hände, Haare, Zungen, all das.
Manche Körper passen zueinander, andere nicht. Dabei scheint es den Körpern ziemlich gleichgültig zu sein, was der Rest des Menschen davon hält. Das Herz will und hat da auf einmal all diese Gefühle, und trotzdem sagt der Körper: „So nicht.“ Oder der Kopf sagt ganz klar: „Nein, keine so gute Idee jetzt“, aber der Körper findet die Idee ganz hervorragend, und es fühlt sich genau so an, als wären diese beiden Körper dafür gemacht, sich zu berühren.
Carla spürte schon nach wenigen Minuten, dass ihr Körper hier auf den Körper einer anderen Frau traf, mit dem sich alles richtig und gut und in gewisser Weise harmonisch anfühlte. Man muss einen gemeinsamen Takt, einen Rhythmus finden. Manchmal gelingt es sofort, manchmal nie, und die eine oder die andere ist immer ein winziges bisschen daneben, ein kleines bisschen zu schnell oder zu langsam oder einfach falsch. Alles Fragen, die sich bei Annabell nicht stellten.
Der Morgen war nicht mehr weit entfernt, und bis in die frühen Morgenstunden hatten sie miteinander geschlafen. Irgendwann hatte Carla Kaffee gekocht und mit ins Bett genommen und zwischendurch durch das Fenster einen trüben Sonntag heraufdämmern gesehen.
Und dann, während sie beide Kaffee trinkend im Bett lagen, hatte Annabell ganz unvermittelt gesagt: „Ich weiß, dass du eine Freundin hast.“
Carla erschien es im ersten Moment erleichternd, dass nicht sie es war, die diesen Satz aussprechen musste, und dennoch erschien ihr irgendetwas daran schal und abgestanden, als würde sich mit einem Mal ein unguter Geschmack in ein perfektes Gericht schleichen.
Annabell erzählte weiter, dass Annette ihr von Carlas langjähriger Beziehung berichtet hatte und dass sie Freitagabend noch länger über Carla geredet hätten. Das alles war für Carla keine Überraschung und hätte auch bei weitem kein Grund zur Ernüchterung sein sollen.
Als Annabell eine Stunde später gegangen war und Carla alleine in ihrem Bett lag, war ihr bewusst, dass es nichts als der unverfälschte Egoismus war, der Carla diesen Satz als störend empfinden ließ. Sie hätte gerne alle Komplikationen aus dieser Begegnung heraus gehalten, weil eine kleine unerwünschte Zutat den Genuss schon trüben konnte.
Annabell war also gegangen. Der Sonntagmorgen war noch früh und unbenutzt. Dies war nicht der frühe Morgen oder die sehr späte Nacht gewesen, in der Carla Annabell von ihrem Erlebnis mit der „Madonna“ erzählt hatte. Dieser Morgen folgte erst einige Monate später. Und dazwischen? Das Dazwischen war angefüllt mit vielen Treffen, vielen Küssen, vielen Berührungen. Mehr als gut waren, das wusste Carla schneller,