Als sie die Galerie wenige Stunden später wieder aufschloss, war sie nervös. Das hatte sich in all den Jahren nie gelegt. Auch wenn es in der Galerie Christensen mittlerweile schon zahlreiche Ausstellungen samt dazugehöriger Vernissage gegeben hatte, war sie jedes Mal aufs Neue aufgeregt. Eigentlich gab es keinen Grund. Die Organisation hatte funktioniert, und sie hatte nur mit Leuten zusammengearbeitet, von denen sie wusste, dass sie zuverlässig waren.
Der Künstler hatte genau den richtigen Bekanntheitsgrad, um noch als neu zu gelten, aber gleichzeitig war sein Talent schon von einer ausreichenden Menge von Kritikern und Kuratoren bestätigt worden. Wenn er in seinen Arbeiten nicht nachließ, konnte es ein großer Erfolg werden, ihn dauerhaft an ihre Galerie zu binden. Aber erst einmal musste der Eröffnungsabend gut verlaufen.
Sie war eine Stunde vor Eröffnungsbeginn da, eine halbe Stunde vorher würden die drei Leute vom Catering kommen, um sich um die Getränke zu kümmern. Sie hatte also noch eine halbe Stunde Zeit, um die Ausleuchtung ein letztes Mal zu überprüfen und sich selber mit einem ersten Glas Sekt zu beruhigen. Viel trinken würde sie an diesem Abend nicht, vielleicht später noch ein zweites Glas, vielleicht noch ein drittes, wenn sie heute Nacht in ihrer Wohnung auf dem Sofa sitzen würde.
Der Catering-Service war pünktlich, der DJ auch, und schon kurz nach sieben, ungewöhnlich früh, ließen sich die ersten Gäste in der Galerie blicken. Ein paar junge, unbekannte Gesichter, ein paar bekannte und unter ihnen ein Stammkunde, für den sich Carla die Zeit nahm, ihn persönlich kurz durch die Ausstellung zu führen, solange es noch nicht zu voll war. Sie hätte ihm gerne Thomas, den Künstler, vorgestellt, aber von ihm war natürlich nicht zu erwarten, dass er Punkt sieben die Galerie betreten würde, wenn er denn überhaupt kam.
Die Galerie füllte sich erstaunlich schnell. Carla hatte die richtige Wahl mit Thomas getroffen. Schon anderthalb Stunden später war die Eröffnung auf dem richtigen Weg zum Partyevent. Es schien tatsächlich zu funktionieren. Carlas gut betuchte Stammkunden, die regelmäßig ihre Sammlungen neu ausstatten und erweitern wollten und auch das ausreichende Geld hatten, um es sich leisten zu können, mischten sich bestens gelaunt mit einem kreativ abgerockten Partyvolk, das sich irgendwo zwischen Kunststudent, arbeitsloser Schauspielerin und überbezahltem Werbemenschen bewegte.
Mitten in der angehenden Partystimmung sah Carla aus dem Augenwinkel Annette hereinkommen. Carla versuchte, den kürzesten Weg Richtung Eingang zu nehmen, ohne sich in Gespräche verwickeln zu lassen, und als sie es schon fast geschafft hatte, geriet sie für einen kurzen Moment ins Stocken, als sie sah, wen Annette als Begleitung mitgebracht hatte.
Annabell legte ihr bei der Begrüßung sekundenlang die Hand auf den Unterarm, was sich warm und auf eine verwirrende Weise sehr nah anfühlte. Carla konnte nicht sagen, ob Annabell zu den Menschen gehörte, die andere Menschen einfach gerne und oft anfassten, oder ob sie tatsächlich Carla damit meinte, doch Carla konnte durchaus sagen, dass ihr Letzteres besser gefallen hätte.
Die Lautstärke des DJ´s näherte sich bereits der Partygrenze, und durch das zusätzliche Stimmengewirr um sie herum, beugte sich Annabell sehr nah zu Carlas Ohr, als sie jetzt sagte:
„Wie erfrischend, das verstehen Sie also unter hervorragender Kunst.“
Carla musste lächeln. Nicht nur weil Annabell so völlig ohne jede Diplomatie das Thema des gestrigen Abends wieder aufgegriffen hatte, sondern auch, weil sie sich sofort beim ersten Wort wieder zu dieser Stimme hingezogen fühlte, die jetzt geradezu unverschämt nah an ihrem Ohr verweilte. Und nicht nur das. Durch die Nähe nahm sie jetzt auch noch Annabells Geruch war, ihr Parfum, eine seltsame Mischung aus süß und streng.
Carla bot Annabell ein Glas Sekt an, das sie ablehnte, doch Carlas Angebot, sie durch die Ausstellung zu führen, nahm sie an. Carla war durchaus dazu in der Lage, die großformatigen Ölbilder vor ihnen in gewisser Weise durch Annabells Augen zu sehen, und schon nach den ersten drei Bildern, die sie betrachteten, war sich Carla sicher, dass Annabells Urteil vernichtend sein würde.
Die Bilder hatten etwas Mystisches. Das fand in jedem Fall Carla. In seltsam dunkle Phantasielandschaften und Räume waren Menschen ausgesetzt worden, die irgendwie verloren wirkten, so als wüssten sie selber mit sich nicht viel anzufangen. Die meisten waren junge Frauen, viele in zerrissener, merkwürdiger Kleidung, die eher an Verkleidungen erinnerte, manche von ihnen nackt. Überdimensional große Käfer, Raupen und andere Insekten gesellten sich dazu und schienen in uneindeutigen Verhältnissen zu den Frauen zu stehen, irgendwo zwischen Haustier, Liebhaber und unberechenbarem Raubtier. Trotz dieser skurrilen Ansammlungen, ließen die Bilder dem Betrachter viel Raum. Sie zwangen einem keine Deutung auf, ließen einen in gewisser Weise mit den eigenen Vorstellungen und Erklärungen allein. Das schätzte Carla an diesen Bildern. Schnell wurde jedoch deutlich, dass Annabell dies nicht unbedingt zu schätzen wusste. Nachdem Carla ein paar Minuten über den Künstler geredet hatte und sie vor dem dritten Bild standen, unterbrach Annabell sie abrupt mit der gleichen Direktheit, die Carla schon kannte und die offensichtlich kein Interesse an Höflichkeit hatte.
„Das ist ja alles schön und gut, was Sie mir da erzählen, aber ich meine, was soll es bedeuten? Nehmen wir zum Beispiel dieses Bild hier. Was konkret soll dieses Bild bedeuten? Eine nackte, junge Frau, die auf einem riesigen Käfer liegt, während irgendein komisches, undefinierbares Wesen mit Maske sich das alles aus dem Hintergrund anguckt, ich meine, ist das Ihr Ernst?“
„Nun ja, in erster Linie ist es wohl der Ernst des Künstlers, aber ich bin absolut mit ihm einer Meinung, dass Kunst nicht immer eine einfache und schlüssige Antwort geben muss. Ein Bild muss uns nicht unbedingt eine Erklärung geben, oder? Vielleicht berührt es uns ja gerade deswegen, weil es uns diese Erklärung nicht auf den ersten Blick gibt oder sie uns vielleicht auch gar nicht geben will.“
„Sie fühlen sich durch nackte Frauen auf Käfern berührt?“ Schon wieder dieser schneidende Unterton in ihrer Stimme. Carla hatte es kommen sehen.
„Und können Sie mir auch nur einen einzigen Grund dafür nennen, warum diese Frauen fast alle nackt oder zumindest halbnackt sind?“
„Können Sie mir auch nur einen einzigen Grund dafür nennen, warum sie nicht nackt sein sollten?“
Warum reagierte sie nur so, warum viel es ihr bei dieser Frau so schwer, ihren Tonfall im Griff zu haben? Sie hatte doch genau gewusst, wie Annabell auf diese Bilder regieren würde.
„Wenn Sie mich fragen, ist die Geschichte der Kunst eine eindeutig sexistische Geschichte. Ich meine, gehen Sie in irgendein beliebiges Museum, überwiegend männliche Künstler, auf den Bildern haufenweise nackte Frauen.“ Annabells Tonfall passte jetzt zu ihrer ernsten Miene.
„Und das ist Ihr Spezialgebiet? Die Geschichte der Kunst?“ Carla war absolut nicht in der Lage, sich aus dieser seltsamen Mischung aus Anziehung und Provokation irgendwie charmant herauszuwinden.
„Ich wüsste nicht, wofür man da Spezialistin sein muss, um das Offensichtliche zu sehen.“ Annabell hatte offenbar nicht die Absicht einzulenken.
Carla überlegte ein paar Sekunden, in denen sie beschloss, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Sie fühlte sich gegenüber Annabell unglaublich im Recht, hatte aber auch unglaublich wenig Lust, sich mitten in ihrer eigenen Ausstellungseröffnung zu streiten, obwohl sie ahnte, dass streiten mit Annabell eine lustvolle Angelegenheit sein könnte.
„Hören Sie“, sagte Carla jetzt so versöhnlich wie sie konnte und schaffte es auch, Annabell dabei anzulächeln. „Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass wir, was die Kunst angeht, auf einen Nenner kommen. Aber vielleicht muss man das auch nicht unbedingt, um einen angenehmen Abend zu verbringen. Also, warum trinken wir nicht einfach etwas zusammen und versuchen, uns zu amüsieren? Sie finden die Bilder in aller Ruhe weiterhin schrecklich, und ich tue so, als würde es mir nicht auffallen. Was halten Sie davon?“
Annabell lachte. Und es war ein warmes, angenehmes und entwaffnendes Lachen, das Carla da entgegen strahlte.
„Davon