Ich war an dem Freitag hier in Elverum, klar. Gibt’s denn Fingerabdrücke? Spuren? Seine Kumpels sind Luschen, Versager, Abzocker, gehirnvernebelte Kiffer, aber bestimmt keine Mörder. Und mit Wesendonk, auch son’ Abstauber vor dem Herrn, son’ freundlicher Leuteverarscher, mit dem hat er doch im Keller Computer repariert. Aber in der letzten Zeit hat Rolf doch gar nichts mehr auf die Reihe bekommen – und der Wesendonk hat sich in dem Keller richtig eingenistet, mit Matratze und so – war ja ne billiger Sommerbaustelle. Ich hab damals mit der alten Lungenstrass telefoniert, die hat mir erzählt, dass der Wesendonk wohl das Waschbecken in Waschkeller als nächtliches Pissoir benutzt, weil plötzlich da immer alles nach Pisse und Zigarettenrauch stank. Die war ganz schön wütend. Aber dann hat der Vermieter, so’ne Schnarchnase mit Tirolerhut, den Wesendonk ja doch vor die Tür gesetzt. Ach so – irgendwie war der Rolf auf Wesendonk doch total sauer – auf einmal – wollte mir aber nichts genaues erzählen – irgendwas mit Bestellungen und Rechnungen auf Rolfs Namen. Ich will den Wesendonk ja nicht in die Pfanne hauen, aber Rolf hat mal gesagt so ‘was wie „ihr kennt den alle nicht richtig, ihr lasst euch von der freundlichen Fassade blenden“... fragt sich nur, warum er sich mit dem Wesendonk immer noch abgegeben hat ... Ich meine, der Rolf war doch irgendwie in der totalen Sackgasse – und dann bin ich auch noch abgehauen ...
... ehrlich gesagt ... er hat nur noch genervt ... ich denke er war depressiv ... oder manisch-depressiv oder so ‘was ähnliches ... so hin und her ... und immer träger und unbeweglicher ... hat sich nichts sagen lassen ... immer sein „Ja, ja alles easy, kein Problem“... ich hab ja auch keine Ahnung wie sich der Alkohol auf son’ Wesen auswirkt ... das ging ja so ganz langsam los mit dem Sprit ... erst war das ganz o.k., ich hab gern mitgepichelt, wir haben viel Spaß gehabt ... aber dann, ich weiß nicht ... irgendwann hing der an der Flasche wie son’ Baby ... und alles hat sich verändert ... erst war ich wütend, weil er immer benebelt war ... dann habe ich mehr so Mitleid gehabt ... jedenfalls konnte ich ihm nicht richtig helfen ... na ja, war denn auch schon lange keine richtige Beziehung mehr ... unter einer richtigen Beziehung stell ich mir was anderes vor ... aber er hat ja auch so’ne Alkoholtherapie mal abgebrochen ... hat alles nichts gebracht... vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber so richtig tief traurig bin ich nicht... aber Pistole, Schalldämpfer ... da passt was gar nicht zusammen ... zur Beerdigung fahre ich jetzt nicht extra nach Deutschland.“ So die Zusammenfassung von Anita Radschlägers Aussagen bei der norwegischen Polizei und in einer Videoschaltung mit Boll.
Boll betrachtet Anita Radschlägers Foto: unscheinbares, bleichhäutiges Gesicht, tiefschwarz gefärbte lange Haare, Nickelbrille vor blass-grau ausdruckslosen Augen. Boll nuschelt in sein Aufnahmegerät: „Anita Radschlägers Alibi scheint wasserdicht. Sie war am Tattag nachweislich in Norwegen, von 9 – 17 Uhr gearbeitet, von 19 bis 24 Uhr auf der Geburtstagsparty einer Kollegin. Und welches Motiv hätte sie gehabt? Und ein Mord in ihrem Auftrag? Dummes Zeug.“ Boll schüttelt den Kopf. „Die war einfach nur froh, dass sie weit, weit weg war von dem Typ. Die war kuriert.“
Boll resümiert weiter: „Bisher kein hilfreiches Spurenbild. Die Waffe ohne Fingerabdrücke. Die DNA-Geschichte läuft. Selbstmord ausgeschlossen. Oder gab es einer Helfer? Blödsinn! Die Waffe: Ceska Modell 83, Kaliber 7,65 mit Schalldämpfer lag sonderbarerweise wie in inszenierter Verachtung – im fauligen Küchenmüll eines offenen Abfalleimers.
Der Tote lag, angezogen mit T-Shirt und Jeans, quer im engen Korridor, den Kopf im Schlafzimmer, die bloßen Füße in der Küche. Er lag dort wie etwas Störendes, über das man stolpern musste. Dobermann war an einem Kopfschuss gestorben, wie bei einer professionell ausgeführten Hinrichtung, einem Auftragsmord. Die Waffe stammt wohl aus alten rumänischen Armeebeständen. Die vermutete Tatzeit wurde bestätigt: Freitag zwischen 17 und 19 Uhr. Die Mutter hat ihn Samstagmorgen gegen 9 Uhr aufgefunden.“
Kommissar Boll, beeindruckt von den formvollendeten Gazellenbeinen Marita Dobermanns, erhebt sich von seinem Drehstuhl, als die Mutter des Toten in seinem Büro erscheint, in einem hellen, wahrscheinlich sehr preiswerten Sommerkleid, das jedoch perfekt ihre mädchenhafte Figur umschmeichelt. In dem müden Gesichtszügen, Krähenfüßen, nicht mehr ganz straffen Wangen, der erschlaffenden Halspartie, im nur noch leidlich festen Fleisch der Oberarme, in der verrunzelten Haut des Dekolletés offenbart sich für Boll die Vergänglichkeit einer Belle de Jour. Und in Bolls nicht zu unterdrückender romantischer Phantasie treffen sich im Paris der 1960er Jahre blutjunge Filmgeschöpfe zu einem Sekundenstelldichein. Marita Dobermanns fraulich elegante Grazie wirkt unbestreitbar auf Boll, auch wenn mit Runzeln und Krähenfüßen der Magnetismus despektierlich schwächelte, so die Sicht des Kommissars. Gleichzeitig gewahrt er eine den Zumutungen des Lebens gegenüber in Resignation, vielleicht in Demut ergebene Frau, die sich mit einigen Putzstellen die kleine Witwenrente aufbessert. Die roten Haare hatte sie ihrem Sohn vererbt, aber versäumt, ihm auch nur ein einziges Gen ihrer aparten Erscheinung zu schenken – sinniert Boll.
Auch einen Tag nach der trostlosen Beisetzung ihres Sohnes putzt Marita Dobermann die Besenbindersche Wohnung – wie schon seit 30 Jahren – Montags, Mittwochs, Freitags. Es ist sozusagen eine Lebensstellung. Besenbinders hatten seit den späten 1940er Jahren aus dem Architekturbüro des Alten und dem kleinen Bauunternehmen des Sohnes Arthur bis heute ein ertragreiches Unternehmen, stattliche Vermögenswerte aufgebaut, zu denen eine Autovermietung, Autowaschstraßen und der Besitz etlicher 50er Jahre Straßenzüge in der nahen Landeshauptstadt zählen. Das jetzt alte Ehepaar Arthur und Elise Besenbinder – beide fast 80jährig – trotz immensen Wohlstands einem bürgerlich-kleinbürgerlichen Lebensstil scheinbar treu geblieben, mit Rauhaardackel, koreanischem Kleinwagen, Jagdhütte in der Eifel. Die zwei Alten leben in einer Etagenwohnung, auf deren riesigen Balkon die Geranien in jedem wiederkehrenden Sommer üppig wuchern – inmitten einer biedermännisch gepflegten Vorortgegend.
Für Marita Dobermann ist die Beerdigung Arthur Besenbinders die zweite innerhalb einer Woche. Nach der Freigabe der Leiche – sie hatte ihren Sohn im Krematorium verbrennen lassen und die Asche der Erde zurückgegeben – steht sie nun als „treue Perle“ am Sarg ihres langjährigen Arbeitgebers in eine der hinteren Reihen der schlichten Kapelle des Südfriedhofs. Am offenen Grab spricht Florian Nachtigall, 18jähriger Enkel, Abschiedsworte an den Großvater. Er steht blond und hell in Strahlen später Morgensonne. „Ein Siegfried“ seufzt Marita Dobermann bewundernd. Florian Nachtigalls Muttersprache ist von einem ausgeprägt britischen Akzent durchzogen. Besenbinders Enkel hatte seine Schulzeit im schottischen Gordonstoun verbracht – ein Internat, dass ein deutscher Reformpädagoge 1934 gegründet hatte, und in dem viele Mitglieder der britischen Königsfamilie erzogen wurden. Florian Nachtigall absolviert die Beerdigung seines Großvaters Arthur Besenbinder und fliegt umgehend nach New York, um ein Praktikum in der Anwaltskanzlei Perkins, Rott & Huenfeld zu beginnen.
Arthur Besenbinder war seit seiner frühesten Jugend ein leidenschaftlicher Jäger gewesen. Sein heimisches Jagdrevier begann am Zaun des erwähnten Südfriedhofs,