Alexander Siewers
Neander-Tales
Erzählung
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Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel
„Der Typ ist jedenfalls kein Opfer eines klassischen Eifersuchtsdramas.“ Mit Spuren erlaubter professioneller Verächtlichkeit in den Mundwinkeln betrachtet Kommissar Sebastian Boll (39) den Toten, dessen Haut ihn an den trüben Glanz grobporiger Schwarten aus der Dorfmetzgerei seiner transsilvanischen Kindheit erinnert.
Im Schimmer wohliger Selbstverliebtheit fährt sich Boll mit gepflegten Händen durch seine goldlockigen Haare – um dann die Einmalhandschuhe überzustreifen. Hier in den Zimmern des Toten, Erzberger Straße 22, Parterre rechts, wohnt jedoch nicht der den Ceausescischen Strategen der Dorfindustrialisierung suspekte träge Duft der Schultheißschen Räucherkammer, der Sattheit – wunderbar kommod – hinter zugezogenen Läden verhieß. Hier wohnte schon lange der üble Gestank offensichtlichen Elends – mageres, saures Dasein – ganz ohne niederträchtiges Zutun der Securitate, ganz ohne jämmerliche Bettelarmut.
Der Tote, der 28jährige Rolf Dobermann, arbeitete einige Jahre im Computerladen „CS“. Vor fünf Monaten, erhielt Dobermann die Kündigung: Überhand nehmender Alkoholkonsum während der Arbeit und daraus resultierende Unzuverlässigkeit. Nach dem Rausschmiss reparierte Dobermann – zusammen mit Kumpel Oli Wesendonk – im Keller der Wohnung, Erzberger Straße 22, Computer. Obwohl – tatsächlich reparierte Wesendonk – und Dobermann stellte seinen geräumigen Keller zur Verfügung und soff zumeist den preiswert Korn und das Discounterpils – oder am Monatsanfang das teure Zeug aus dem Büdchen nebenan. Die anderen Hausbewohner bemerkten ein stetes Kommen und Gehen von Menschen mit Computerteilen, Laptops, Kartons. Da Dobermann zumeist im Bett lag, soff und auf das Klingeln nicht reagierte, schellten etliche Kunden irgendwo im Haus. Zumeist klingelten die Besucher bei Frau Lungenstrass, der Flurnachbarin Dobermanns, verlangten zügigen Einlass und forderten das eine und andere Mal Wegweisung zu Wesendonks Arbeitsraum. Nach knapp drei Wochen beendete Vermieter Weyrauch, der auch im Haus wohnt, das Spektakel.
Fortan zahlte Dobermann keine Miete mehr, verschlief die Tage bei abgedunkelten Fenstern, verleidete in etlichen Nächten seinen Nachbarn die Nachtruhe, indem er gegen Mitternacht seine Musikanlage austestete.
„Er ist ein Nachtmensch“ versuchte seine Mutter das Verhalten zu erklären. Mitgefangen in der Dobermannschen Höhlenwelt war eine bemitleidenswerte Katze, die von seiner Mutter versorgt wurde, als Rolf Dobermann zwischenzeitlich zur Entgiftung in einer Klinik – und wegen nicht bezahlter Mahnbescheide kurzzeitig im Gefängnis saß. Gemeinschaftsaufgaben wie Flurputzen schienen weit außerhalb seines Interesse- und Aktionsradius zu liegen. Seine Mutter, die aus der Nachbarstadt anreiste, putzte dann und wann für ihn den Hausflur. Traf ein Hausbewohner im Treppenhaus zufällig den in eine Gloriole von Bier- und Schnapsdunst eingehüllten Dobermann, so sorgte sich der entsprechende Bewohner, dass sich auf dem Boden in Sekundenschnelle eine wider-liche Pfütze um Dobermann bilden könnte, so rannen die sommerlichen Schweißperlen unaufhörlich an seiner bleichen, speckig glänzenden Haut herab. Beschwerte sich der Hausbewohner bei einer der äußerst seltenen Begegnungen über die nächtliche Musik und andere Zumutungen, versprach der groß und breit gewachsene Dobermann in höflich ausschweifender und verschwurbelter Sprache – alles – um nichts einzuhalten. „Kein Problem, kein Problem – alles easy“ war sein Standardschlusssatz.
Nach diesen Berichten der Hausbewohner war es verständlich, dass Rolf Dobermann nicht als heißer Anwärter für einen Beliebtheitspreis gelten konnte – aber Verärgerung eines Nachbarn als Motiv für einen Mord? Dazu professionell mit Schusswaffe und Schalldämpfer!
Kommissar Boll erinnert sich, dass erst vor kurzem in Freiburg ein 70jähriger Mann einen 29jährigen Flurnachbarn in einem lautstarken Treppenhausstreit erschoss. Der junge Flurnachbar hatte monatelang nachts laute Musik gehört – nie auf die Beschwerden seiner Nachbarn Rücksicht genommen, sondern diese wüst beschimpft, wenn sie nachts an seiner Türe schellten und ihre Nachtruhe einforderten. Hier im Haus hatte jedoch in der betreffenden Tatzeit – auch in den Tagen und Nächten zuvor – niemand Streit oder Lärm gehört. Auch Dobermanns berüchtigte Musikanlage war in den letzten vier Nächten stumm geblieben. Zur Tatzeit waren laut eigenen Aussagen die Mieterin Frau Lungenstraß und der Mieter Paul Keller im Haus anwesend. Rolf Dobermanns direkte Flurnachbarin, Frau Lungenstraß, eine 65jährige zwar unterschwellig verbittert wirkende Witwe, konnte sich Boll beileibe nicht als schallgedämpfte Ceska zückende Rächerin der verletzten Hausordnung vorstellen, auch wenn sie natürlich nicht gut auf Dobermann zu sprechen war.
Als Dobermann vor einem Jahr in die Wohnung einzog, sollte er das Rasenmähen auf der kleinen Fläche hinter dem Haus übernehmen. Doch schon beim ersten Mähen sah Frau Lungenstraß durchs Küchenfenster, dass der vierschrötige Dobermann mit drei, vier Versuchen den Elektromäher in ungelenken Bewegungen eines Frankensteindarstellers durch das mittlerweile hohe Gras drückte, nur kurzwegige archaische Rasenmuster produzierte, während zwischen den Gänseblümchen das