Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ (Art. 38 GG). In der Tat können alle MdB bei Abstimmungen allein ihrem Gewissen folgen, aber wer tut das wirklich? Fraktionszwang ist die Regel, nicht die Ausnahme. Wird kein Fraktionszwang ausgeübt, bleibt es also den Mitgliedern einer Fraktion freigestellt, wie sie abstimmen, ist das eine Nachricht in den Medien wert. Freilich ist „Zwang“ nicht immer im strengen Sinn des Wortes zu verstehen; abweichendes Stimmverhalten wird schon geduldet – solange die Mehrheit für das von der Fraktionsführung gewünschte Ergebnis nicht gefährdet ist. Deshalb wird auch eher von Fraktionsdisziplin oder – aus Sicht der Parteien – von Fraktionssolidarität gesprochen.
Dabei kann es durchaus eine Gewissensentscheidung sein, sich der Mehrheitsmeinung der Fraktion anzuschließen. Schließlich können die einzelnen Abgeordneten nicht nur nicht alles wissen, sie können sich auch – bei der Fülle der Themen und des für die Behandlung zur Verfügung stehenden engen Zeitrahmens – nicht in jede Problematik hinreichend einarbeiten. Insofern sind sie nicht nur auf den wissenschaftlichen „Apparat“, sondern auch auf die jeweiligen Fachleute der Fraktion angewiesen. Und insofern kann der Fraktionszwang durchaus sinnvoll sein.
Wenig sinnvoll, um nicht zu sagen albern, mutet es hingegen an, wenn auf keinen Fall Vorschlägen „gegnerischer“ Fraktionen zugestimmt werden soll. Da mag ein Antrag noch so richtig sein, kommt er aus der Opposition, versagen die Mitglieder der regierungsstützenden Fraktion/en ihm nahezu garantiert die Zustimmung. Und umgekehrt ebenso. Zuzugeben, dass die anderen auch mal eine gute Idee haben können, tut anscheinend dem Image nicht gut. Image-Pflege heißt Wahlkampf betreiben, und das ist während der ganzen Legislaturperiode angesagt.
Je näher der nächste Wahltermin kommt, umso mehr wird auch zwischen Koalitionsfraktionen auf Abgrenzung geachtet. In der letzten Bundestags-Plenarsitzung der 18. Wahlperiode, am 5. September 2017, wurde Bilanz gezogen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende, Thomas Oppermann, stellte die Bilanz so dar: „Wir haben den gesetzlichen Mindestlohn eingeführt und die Leih- und Zeitarbeit begrenzt. Wir haben eine Frauenquote für die Besetzung von Aufsichtsräten in großen Unternehmen durchgesetzt, aber auch die Situation der Alleinerziehenden deutlich verbessert. Wir haben die Renten in Ost und West angeglichen, und wir haben das erste Integrationsgesetz in der Geschichte dieses Landes verabschiedet. Ich muss sagen: Ich bin stolz darauf, was wir gemeinsam erreicht haben. Aber zur Wahrheit gehört auch: All diese Vorhaben mussten von uns hart erkämpft werden, und zwar gegen die Kollegen und Kolleginnen von CDU und CSU, und viel zu häufig auch gegen Sie selbst, Frau Merkel.“ Die Bundeskanzlerin beschrieb das Geschehen aus ihrer Perspektive: „… gegen meinen Willen und den Willen der Unionsfraktion konnten Sie in diesem Parlament echt nichts durchsetzen.“ (Quelle: Bundestagsprotokoll)
In erster Linie verdeutlicht der Fraktionszwang das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive, denn er zielt darauf, das Regierungshandeln abzusichern, beziehungsweise der Regierung das Leben möglichst schwer zu machen. Damit sind wir beim Kern der Gewaltenteilung. Sie funktioniert nur zwischen Regierung und Opposition, nicht aber zwischen Regierung und den sie tragenden Fraktionen. Eigentlich sollte man sich unter dem Begriff „Gewaltenteilung“ wohl vorstellen, dass das Parlament insgesamt die Regierung kontrolliert. In der Praxis bleibt diese Aufgabe ausschließlich der Opposition überlassen. Den Fraktionszwang gibt es vor allem zur Stützung der Regierung. Und wenn es dabei eng wird, kann auch schon mal Basta-Politik ihre Wirkung zeigen.
Die eigentliche und vornehme Aufgabe des Parlaments heißt nicht Kontrolle, sondern Gesetzgebung – daher Legislative. Auch auf diesem Gebiet spielen Regierung und die sie tragenden Parteien eng zusammen. In den sechs Legislaturperioden von 1990 bis 2013 kamen laut Datenhandbuch des Bundestags rund 80 Prozent der Gesetzes-Initiativen von der jeweiligen Regierung. Das ist kein Wunder. Bevor es zu einer Koalitions-Regierung kommt, vereinbaren die koalierungswilligen Parteien das Programm, das sie in der bevorstehenden Legislaturperiode umzusetzen gedenken. Im Wesentlichen dient dann das Programm als Leitfaden für das Regierungshandeln. Mit eigenen Vorlagen bestellt die Regierung beim Parlament die Gesetze, die sie zum Handeln benötigt.
Nach der protokollarischen Rangordnung steht der/die Präsident/in des Deutschen Bundestags über dem/der Bundeskanzler/in. Das sollte darauf schließen lassen, dass die Legislative als die wichtigere Institution angesehen werden darf. Das Volk als Souverän des Staates wählt denn auch den Bundestag und nicht die Bundesregierung. Die Exekutive kommt erst durch den Willen des Parlaments zustande, handelt also gewissermaßen in dessen Auftrag. Dennoch wird die Bundestagswahl als Kanzlerwahl inszeniert und wahrgenommen. Und die Richtlinien der Politik bestimmt laut Grundgesetz der Bundeskanzler (Art. 65). Von unterschiedlicher Gewichtung bei Legislative und Exekutive kann hier kaum die Rede sein, eher davon, dass die Gewaltenteilung an ihre Grenzen stößt.
Das geflügelte Wort von Franz Müntefering, „Opposition ist Mist“, verdeutlicht die Unterschiede innerhalb des Parlaments. Die regierungstragenden Fraktionen bilden zusammen mit der Regierung ein Herz und eine Seele. Sie sind quasi an der Regierung beteiligt und gestalten mit ihr zusammen das politische Geschehen. Die Oppositions-Fraktionen hingegen haben kaum Möglichkeiten der wirksamen Einflussnahme.
Grenzen der Gewaltentrennung offenbart besonders der Bundesrat. Als Vertretung der Länder wirkt der Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mit. Gesetze, die Angelegenheiten der Länder berühren, können nur mit Zustimmung des Bundesrats beschlossen werden. „Der Bundesrat besteht aus Mitgliedern der Regierungen der Länder“, bestimmt das Grundgesetz (Art. 51). Hier wurden also Doppelfunktionen geschaffen: Ministerpräsident/innen und Minister/innen bilden die Exekutive der Länder, gleichzeitig spielen sie eine Rolle als Parlamentarier.
Ohne etwa durch das Grundgesetz dazu verpflichtet zu sein, nehmen übrigens auch die Mitglieder der Bundesregierung in der Regel diese Doppelfunktion wahr. Sie sind meistens Abgeordnete des Bundestags, und kein Gesetz zwingt sie, dieses Mandat bei Eintritt in die Regierung aufzugeben. Sie dürfen sich selbst kontrollieren.
Unabhängige Justiz?
Die Judikative wird im Allgemeinen als unabhängig wahrgenommen. Die Justiz lässt sich von Regierung und Parlament nicht reinreden – oder doch? Was die Staatsanwälte betrifft, lässt sich die Frage leicht beantworten. Sie haben sich gefälligst an Weisungen von oben zu halten. Ihr oberster Dienstherr ist der jeweilige Justizminister, auf Bundes- ebenso wie auf Länderebene. Die Staatsanwaltschaften müssen sich Weisungen der Exekutive nicht nur gefallen lassen, sie gehören selbst zur Exekutive. Das mutet seltsam an, denn: Strafverfahren werden von Staatsanwälten vorbereitet. Ob Anklage erhoben wird, ob also ein Gerichtsverfahren überhaupt stattfindet, entscheiden Staatsanwälte. Sie gehören zur Exekutive, aber sie handeln als Judikative.
Anwälte vertreten Mandanten, agieren also parteiisch. Staatsanwälte vertreten den Staat als Partei; und der Staat heißt in diesem Fall „Regierung“. Kann es denn mit rechten Dingen zugehen, dass die Regierung in einem Strafverfahren Partei ergreift? Und, wenn ein Staatsdiener unter Anklage steht, in wessen Interesse ermittelt dann der Staatsanwalt?
Die Richter, die eindeutigen Mitglieder der Judikative, haben in puncto Unabhängigkeit die besseren Karten. Nach Artikel 97 des Grundgesetzes sind sie nur dem Gesetz unterworfen. Und Artikel 92 legt klipp und klar fest: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut“. Da ist mit keinem Wort die Rede etwa von Mitbestimmung oder Einflussnahme durch andere Staatsorgane. Dennoch sehen viele Richter sich nicht wirklich unabhängig von der Exekutive. Seit vielen Jahren wird gefordert, die tatsächliche Unabhängigkeit herzustellen. Schon 1953 befasste sich der 40. Deutsche Juristentag mit der Frage, ob die grundgesetzlichen Regelungen in diesem Sinne besser auszuschöpfen seien. Die Vertreterversammlung des Deutschen Richterbunds forderte 2007, der Justiz eine Stellung zu verschaffen, die die Unabhängigkeit nicht einschränke. 2009 forderte der Europarat die Bundesrepublik auf, ein System der Selbstverwaltung der Justiz einzuführen. Die Neue Richtervereinigung hält Reformen der Justizstruktur in Deutschland für überfällig. Die Struktur stamme aus der Kaiserzeit und sei nicht mehr zeitgemäß.
Und darum geht es, um die Struktur. Die Richter stehen in einem öffentlich-rechtlichen