Taubenjahre. Franziska C. Dahmen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franziska C. Dahmen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742718358
Скачать книгу
zu sehen bekommen sollte, grenzte förmlich an ein Wunder. In seinen kühnsten Träumen hätte er das nicht erwartet. Aber direkt über seinen Kopf hinweg war die riesengroße, brummende Zigarrenhummel geflogen. Noch am gleichen Tag hatte er sich in Friedrichshafen eine Zehnerpostkarte mit echt Fotografien gekauft, die er seitdem wie einen Schatz hütete.

      »Baunummer: LZ 127 (das 117. Zeppelin-Luftschiff). Eigentümer: Luftschiffbau Zeppelin GmbH, Friedrichshafen a. B. Hauptabmessungen: Nenn-Gasinhalt des Tragkörpers 105 000 cbm. Länge 236,6 m. Größter Durchmesser 30,5 m. Größte Höhe 33,7 m. Stromlinienkörper (Querschnitt: regelmäßiges 28-Eck)«, rezitierte er leise den umseitigen Text, ehe er lautstark singend mit seiner Lieblingsstelle fortfuhr: »530pferdige direkt gesteuerte Maybach-Motoren für Betrieb mit gasförmigen oder flüssigem Brennstoff.«

      Seitdem stellte er sich jedes Mal 530 geflügelte Schimmel vor, die ihn in rasendem Galopp durch die Luft zogen. Was für ein Spaß! Natürlich war diese Vorstellung vollkommen abstrus, und er würde sich hüten, sie jemanden zu erzählen, aber hin und wieder der eigenen Phantasie freien Lauf zu lassen, schadete schließlich niemanden. Allein die Vorstellung, dass sein eigener Rappe hier auf Erden von 530 imaginären weißen Bundesgenossen begleitet wurde, beflügelte ihn und ließ ihn in Gedanken zu ungeahnten Höhenflügen aufsteigen. Höher und höher ging es, bis zu den Sternen, ja, bis zur Sonne hinauf.

      Ganz kurz meinte er Popo zu hören, der ihm hinterherrief: »Denk an das Märchen vom fliegenden Prinzen, Rafael. Er flog zu hoch hinaus. Seine Flügel fingen Feuer, sodass er abstürzte!«

      Aber im Gegensatz zu ihm, beruhigte Rafael sich, hatte dieser auch keine 531 galoppierenden Helfer gehabt, die mit einem als Zigarre getarnten Schiff durch die Luft segelten. Was zum Teufel sollte einem da schon passieren?

      Rafael lachte aus vollem Herzen, bis ihn urplötzlich ein recht irdischer Stolperstein unsanft auf den harten Boden der Tatsachen zurück katapultierte.

      Doch ein Absturz!, dachte er erstaunt. Was musste er auch an diesen griesgrämigen alten Kerl denken, der an allem und jedem etwas auszusetzen hatte und mit den schicksalsträchtigen Mule2 auf Du und Du stand? Natürlich mussten die ihm prompt einen Stolperstein in den Weg legen, über den er fuhr! Hatten die denn nichts Besseres zu tun? Immer mussten sie ihn ärgern!

      »Dio!«, schimpfte er. »Setz mich in der Wüste aus. Fülle sie bis zum Rand mit feinstem Sand. Verstecke darin einen einzigen Stein, dessen Spitze herausschaut. Anschließend lass hundert Männer sie durchqueren. Garantiert werde ich der Einzige sein, der darüber stolpert.«

      Verärgert sprang er vom Wagen und lief einmal um ihn herum, um sämtliche Räder zu kontrollieren. Verflixt und zugenäht! Er konnte froh sein, dass ihm dabei kein Rad oder gar die Deichsel zu Bruch gegangen war. Wütend über sich selber schüttelte er den Kopf und dachte mit leisem Bedauern daran, wie das Zigarrenschiff mitsamt seinen 530 Schimmeln die Wolkendecke durchbrach, während er sich hier auf Erden mit den Tücken des Alltags herumschlagen musste. Und was für Tücken! Rafaels Gesicht verdüsterte sich zusehends erneut, während er wieder auf den Bock kletterte. Vor knapp zwei Tagen war er Popo zum letzten Mal begegnet. Die ganze Familie hatte gerade am nahe gelegenen Fluss ihr Lager aufgeschlagen, als ein kleiner Trupp Landjäger sie dort aufspürte.

      Ein Terrier in Uniform

      Müde von der langen Reise und über und über mit Staub bedeckt, waren sie gerade im Begriff, ihr Nachtlager am Waldrand aufzuschlagen, als sie unvermittelt von einem rothaarigen Landjäger angebellt wurden: »He, ihr da … macht, dass ihr weiterkommt! Ihr dürft hier nicht kampieren!«

      Rafaels Vater warf dem kleinwüchsigen Landjäger einen kurzen taxierenden Blick zu, widmete sich dann aber wieder in aller Ruhe seiner braunen Stute. Erst nachdem er zu guter Letzt das Zaumzeug an einem extra dafür am Wagen angebrachten Nagel aufgehangen hatte, schenkte er dem anfangs fassungslos, mittlerweile jedoch wütend dreinblickenden Landjäger seine Aufmerksamkeit.

      »Guter Mann«, erklärte Rafaels Vater ihm derweil bedächtig, »wir haben kleine Kinder. Die sind müde. Der nächste Ort ist weit weg. Das dort befindliche Amt hat zu. Der Mann, der da arbeitet, ist nach Hause gegangen. Er ist bei seiner Familie. Seine Kinder liegen in ihren weichen Betten. Er aber hat sich in seinen Sessel gesetzt. Er raucht eine Zigarette. Er ist sehr Müde von all der Arbeit, die er heute hat machen müssen. Er will vergessen.«

      »Ich werde mich auch gleich vergessen, wenn ihr nicht bald von hier abhaut!«, fiel ihm der Rothaarige brüllend ins Wort, und schleuderte im gleichen Atemzug sein Fahrrad in einen nahen Brombeerbusch, um sich, hochrot im Gesicht geworden, in einer drohenden Pose vor seinem Gegenüber aufbauen zu können.

      Aber Rafaels Vater ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Gleichbleibend freundlich fuhr er fort: »Morgen Herr Landjäger …, morgen gehe ich aufs Amt. Jetzt hingegen werde ich dem für heute müde gewordenen Herrn Amtsvorsteher seine wohlverdiente Ruhe lassen. Morgen ist er frisch und munter, und dann werde ich ihn – so wahr ich Anton Zlobek heiße – um eine Aufenthaltsgenehmigung bitten, die er mir gütigst überreichen wird.«

      »Du hast mich wohl nicht verstanden, du Dreckszigeuner!? Ihr sollt verschwinden! Lumpenpack wie euch, wollen wir hier nicht haben!«

      Popo, der bis dahin das Ganze aus nächster Nähe beobachtet und zunehmend mit Sorge registriert hatte, wie sehr der rothaarige Landjäger sich in seine Wut hineinsteigerte, entschloss sich in das Geschehen einzugreifen und beförderte nach wenigen Sekunden ein weißes Papier aus seiner Brusttasche, das er der aufgebracht tänzelnden Terriernatur wortlos entgegenhielt.

      »Was ist das?«, bellte diese ihn an.

      »Genehmigung von unserem letzten Aufenthaltsort.«, antwortete Popo ihm in seiner tiefsten Erzählerstimme, die normalerweise jeden in der Lage war, zu besänftigen, nur in diesem Fall augenscheinlich kläglich versagte. Denn statt, dass die Terriernatur sich beruhigte, steigerte sie sich nur um so mehr in ihre Wut hinein und schlug Popo die Bescheinigung aus der Hand.

      »Interessiert mich nicht!«, tobte sie indessen, schäumend vor Wut. »Von mir aus könnt ihr direkt wieder umkehren und dahin zurückfahren, oder noch besser: Schert euch dahin, wo der Pfeffer wächst!«

      Rafaels Vater nickte verständnisvoll, was den Rotschopf, der insgeheim mit allem nur nicht mit Zustimmung gerechnet hatte, allmählich ins Stocken geraten ließ. Die Anzahl seiner hektischen Schritte, die sich auf ein Areal von wenigen Zentimetern beschränkte, verringerte sich zusehends. Schon meinte Rafael aufatmen zu können – wie es schien, war es seinem Vater gelungen, den Zündmechanismus dieser menschlichen Granate zu entschärfen –, als ausgerechnet Popo das hauchfein austarierte Gleichgewicht der Streitkräfte wieder ins Wanken brachte.

      Besorgt, dass die auf dem Boden liegende Friedensfahne in Form von einer abgelaufenen Aufenthaltsgenehmigung davon geweht werden könnte, bückte Popo sich nach ihr und brachte damit die menschliche Granate zur Explosion.

      »Ich habe dir«, brüllte der jähzornige Landjäger zwischen einzelnen Schlägen in Popos Ohr, »… nicht erlaubt, … dass du … den Wisch … aufheben darfst …«.

      Viel weiter kam er nicht. Denn schon im nächsten Augenblick versuchte Rafael sich mit einem Hechtsprung auf ihn zu stürzen, landete aber dank einer unvorhergesehenen Drehung der beiden Männer auf Popo und begrub ihn stöhnend unter sich.

      Dem Rotschopf war es gleich. Er war nicht wählerisch. Statt auf Popo drosch er jetzt blindlings vor Wut auf Rafael ein.

      Schlag auf Schlag folgte bis einer der beiden Landjäger, die bis dahin eine Statistenrolle übernommen hatten, aus eben dieser erwachte und sich seiner erbarmte.

      »Geh Franz … hör auf! Lass das arme Schwein in Ruh!«

      Noch während er versuchte, den Arm des Tobenden festzuhalten, meinte er an Zlobek gewandt: »Und ihr schaut zu, dass ihr schleunigst von hier wegkommt, und zwar auf der Stelle, sonst kann ich für nichts mehr garantieren!«

      Zlobek nickte nur und half dem immer noch benommenen 74jährigen Popo auf die Beine.

      Gerade