Hier ist es wirklich totenstill, schoss es ihm durch den Kopf. Und das im wahrsten Sinne des Wortes!
Mit leicht angewinkeltem Kopf versuchte er der Stille zu lauschen. Aber schon nach ein paar Sekunden sank sein Kopf kraftlos auf einen der unter ihm liegenden Körper zurück.
Das Stille so dröhnen konnte, wunderte er sich. Sie war lauter als alles, was er kannte. Ob sie in der Lage war, einer Tretmine gleich Trommelfelle oder gar Köpfe zu zerplatzen? – Nein! Das war Wahnsinn! Seine Gedanken waren Wahnsinn. Das hier war Wahnsinn! – Galt in diesem verdammten Loch denn überhaupt nichts mehr? – Wenn er wenigstens seine Arme losbekäme, um sich die Ohren zuzuhalten … Diese verdammte Stille hielt doch keiner aus!
Als unvermutet ein: »Los Fritz, steig endlich ein, mir frieren gleich die Eier ab!«, bis zu ihm hinabdrang, hätte er vor Freude weinen können. Gierig sog er jeden weiteren Wortfetzen auf.
»… Rest erledigen wir morgen!«
»Ja, gleich! Will nur noch sehen, ob eins von den Schweinen überlebt hat.«
»Kannst du vergessen! Den Rest erledigt heute Nacht eh der Scheiß Frost. Und jetzt schwinge endlich deinen gottverdammten Arsch hier rein, mir ist kalt!«
Die Schreier waren also noch da! – Hätte ihm jemals jemand prophezeit, dass er sich eines Tages über ihre Stimmen freuen würde, er hätte ihn für verrückt erklärt. Über die Anwesenheit eines Schreiers freute man sich nicht. Jeder halbwegs vernünftige Mensch betete darum, ihnen aus dem Weg gehen zu können. Zumindest hatte auch er das die letzten Jahre über getan. Nur jetzt nicht! Jetzt kamen ihm ihre Stimmen wie Glockengeläut vor. Die Erkenntnis ließ ihn ein missglücktes Krächzen aus seiner Brust hervorbringen.
Immerhin blieben die Schreier sich bis zuletzt treu. Selbst in dieser Totenstille taten sie das, was sie am Besten konnten: Schreien und Brüllen.
Nachdenklich biss er sich auf die Unterlippe. Vielleicht war das eine Berufskrankheit? Geradeso wie man es von den Köchen her kannte? Die aßen permanent und konnten letztlich nicht mehr damit aufhören, weil sie es gewohnt waren. Genau das musste der Grund sein, warum die Schreier nicht mit ihrem Gebrüll aufhören konnten! Wer den ganzen Tag über schreit, kann irgendwann nicht mehr anders, als nur noch zu schreien. Er hat vergessen, dass es moderate, geschweige denn leise Töne gibt. Sie fallen nicht in sein Lautstärkerepertoire.
Würde ihn jemand bitten, einen von ihnen näher zu beschreiben, so hätte er sofort eine zweibeinige, amorphe Gestalt vor Augen, die von einem großen, aufgerissenen, schwarzen Mund beherrscht wird. Aus ihm werden ohne Unterbrechung tödliche Laute katapultiert, die da, wo sie auftreffen, nur Schutt und Asche hinterlassen.
Schreier eben! Schreier in Uniform, die ihn die letzten Jahre über tagtäglich gequält und fast an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten. Aber letztlich – so musste Rafael sich zu seinem eigenen Erstaunen eingestehen – waren sie ihm vollkommen egal!
Noch während Rafael sein Gesicht dem Himmel entgegenstreckte, wurde seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Zuerst hörte er ein leises Fiepen, dann ein Rascheln. Gierig schaute er sich um und entdeckte eine kleine, braunen Maus, die behände über zwei Leichen kletterte und geradewegs auf den Grubenabhang zusteuerte.
Ich, dachte Rafael sehnsüchtig, würde an deiner Stelle auch die Beine in die Hand nehmen und zuschauen, dass ich so schnell wie möglich von hier fortkomme.
Gerade als die Maus den Grubenabhang hinaufkletterte, nahm Rafael aus den Augenwinkeln eine weitere Bewegung wahr. Es war ein Waldkauz, der im Sturzflug zielgerichtet auf die kleine Maus zusegelte. Schon wollte Rafael das Mäuschen warnen und ihm zurufen: »Mach, dass du wegkommst, der Tod hat seine Schwingen nach dir ausgebreitet!«, als der Waldkauz sich, aufgeschreckt durch das laute Aufheulen schwerer Motoren, von seinem Opfer abwandte und geradewegs auf eine Tanne zusteuerte, von wo aus er gewillt war, das weitere Geschehen aus hungrig blickenden Augen zu betrachten.
Erschöpft ließ Rafael seinen Kopf auf den Boden sinken.
Der stechende Geruch von Diesel breitete sich aus und legte sich schwer über den allgegenwärtigen, metallischen Geruch des Todes.
Noch während er nach frischer Luft röchelte, hörte er, wie ein Fahrzeug nach dem andern polternd die Lichtung verließ und ihn allein in der Stille des Waldes zurückließ.
Er war allein! Jetzt war er wirklich mutterseelenallein.
Angst schnürte ihm die Kehle zu.
Nein, schoss es ihm durch den Kopf, ich bin nicht allein! Irgendwo da draußen sitzt der Kauz und hält Ausschau nach seinem Opfer. Immerhin wären wir damit sogar schon zu dritt: Ein krepierender Rom, ein im wahrsten Sinne des Wortes mordshungriger Kauz sowie eine ahnungslose Waldmaus, die nicht weiß, was ihr blüht. Wahrlich eine feine Gesellschaft, in der ich mich hier befinde!
Lachend hustete er etwas Blut heraus und versuchte einen Blick über den Rand der Grube zu werfen. Mit etwas Glück würde er die kleine Maus sehen können. Von Mördern, egal, ob potentiellen oder nicht, hatte er im Moment mehr als genug. Er solidarisierte sich lieber mit dem Opfer. Vielleicht würde er sie warnen können und mit etwas Glück in die Annalen ihrer Geschichte eingehen: Ich, Mäuserich Fibo, wurde im tiefsten Winter seit Mäusegedenken nächtens von Rafael Zlobek gerettet. Er ist ein homo sapiens, der offiziell der rassisch als minder zu bewertenden Unterart der Zigeuner zuzurechnen ist, würde dort schwarz auf weiß zu lesen sein.
Rafaels Kopf sank ermattet auf den unter ihm liegenden Leichnam.
Er schaffte es nicht. Er lag zu weit unten. Es mochten vielleicht gerade einmal zehn Zentimeter sein, die ihm fehlten. Zehn läppische Zentimeter, um nicht zu sagen eine Handbreit fehlten ihm, um sich mit einer Maus auf Augenhöhe zu befinden. Zehn läppische Zentimeter, die ihm schwarz auf weiß hätten bestätigen können, das er ein Mensch war.
Verbittert schloss Rafael die Augen, während er zugleich versuchte, seine rechte Hand zu bewegen. Aber es gelang ihm nicht. Kalios, der direkt neben ihm lag, hielt sie eisern umklammert. Doch während in seiner noch das warme Leben pulsierte, war Kalios Hand eiskalt und starr.
Ein Schauder durchfuhr Rafaels Körper.
Wie lange es wohl dauern mochte, bis auch sein Körper zu Eis erstarrt sein würde?, fragte er sich.
Egal! – Innerlich war er schon längst zu einem Eiszapfen mutiert. Und dabei war in seinem Leben einmal alles so hell, so warm, so voller Liebe, so voller Hanna gewesen. – Hanna! Seine wunderschöne, heißgeliebte Hanna. Sein Augenstern, seine Liebe.
Etwas weiter abseits stand ein Mann in SS-Uniform an einen Baum gelehnt und schaute voller Hass und Abscheu auf Rafael. Er wollte ihn Leiden sehen, so, wie er all die Jahre über gelitten hatte. Doch statt Schmerz und Leid entdeckte er ein Lächeln auf den Lippen des Sterbenden. Verbittert zog der Fremde an seiner Zigarette, während ihn seine Gedanken auf verborgenen Pfaden zu eben jener Hanna führten, der Rafaels letzte Atemzüge galten.
Mai 1930
Von den nahegelegenen Streuobstwiesen wehte ihm der süße Duft sich öffnender Apfelblüten entgegen. Tief sog er ihn ein und schloss dabei für ein paar Sekunden die Augen, während die ersten Sonnenstrahlen des Tages sein Gesicht wärmten. Das Brummen einer Hummel, die dicht an ihm vorbeiflog, gesellte sich zum rhythmischen Geklapper der Pferdehufe. Zusammen mit dem wohlvertrauten Rollen der Räder seines Wohnwagens bildeten sie eine höchst eigenwillige Melodie, die immer dann, wenn er auf dem holprigen Feldweg in ein Schlagloch eintauchte, einen Kontrapunkt erhielt. Rafael hätte vor Freude laut jauchzen können. Er war glücklich. Er liebte es, unterwegs zu sein. Die Räder seines Wagens waren seine Flügel der Fortbewegung. Schon drei Mal hatte er ein Flugzeug gesehen: Das erste Mal, da war er gerade in Frankreich unterwegs gewesen, einen Doppeldecker. Dann im