»Ja, das ist Lamm, Tom.«
»Lamm ist gut. Sollen wir das bestellen?«
Rosa erwiderte mit gekräuselter Nase: »Ich bin Teilvegetarierin.«
»Was zum Teufel bedeutet Teilvegetarierin?« Tom machte einen verzweifelten Gesichtsausdruck.
»Na ja, ich kann nicht auf Fisch verzichten. Und gelegentlich esse ich noch Rindfleisch. Das ist aus der bretonischen Küche kaum wegzudenken. Wie man aus der Speisekarte ersehen WÜRDE, wenn man Französisch KÖNNTE«, neckte sie ihn. »Aber andere Fleischsorten esse ich überhaupt nicht. Vor allem aber esse ich keine Tierbabys.« Rosa schüttelte sich. Beim Gedanken an all die Lämmer und Kälber, die gerade zu dieser Zeit neben ihren Müttern auf den saftigen Weiden lagen und die ersten Sonnenstrahlen ihres jungen Lebens auf ihrem samtweichen Fell spürten, während die Schlachter wahrscheinlich schon ihre Messer wetzten, wurde ihr elend zumute. Es war einfach nur barbarisch. Und die Tatsache, dass sie nicht gänzlich auf Fleisch verzichten konnte, beschämte sie zutiefst.
»Okay, und was essen wir dann?«, fragte Tom zweifelnd.
»Ich kann den Bar empfehlen.«
»Was um Himmels willen ist BAR?«, fragte er und riss die Augen auf.
»Oh, das ist … wie heißt es doch gleich … das ist Wolfsbarsch, mein absoluter Fischfavorit.«
»Aha«, erwiderte Tom. »Dann nehme ich das Steak.«
Rosa musste über seine abrupte Reaktion lachen. »Und wollen wir zum Essen einen Wein trinken? Vielleicht einen Rotwein?«, fragte sie nach.
»Rotwein zu Fisch?« Tom war erstaunt.
»Tja, über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten. Ich jedenfalls trinke meinen Lieblingswein zu allen Gerichten. Fauxpas hin oder her! Und zwar schamlos in aller Öffentlichkeit. Wenn es denn mein geliebter Haut-Médoc sein darf.«
»Darf es«, antworte Tom gönnerhaft nickend.
Als Rosa die Bestellung bei der Kellnerin aufgeben wollte, kam Tom ihr zuvor. Er redete in englischer Sprache auf die arme Frau ein und Rosa sprang ein, um zu übersetzen, als die Kellnerin Tom nur verständnislos anstarrte. Vielleicht setzte ihr Gehirn gerade aus, dachte Rosa belustigt. Weil sie einen so überaus gutaussehenden Gast vor sich hatte, den sie vielleicht im Moment noch nicht einordnen konnte. Die Erkenntnis würde ihr dann wahrscheinlich irgendwann heute Nacht kommen, wenn es zu spät war. Rosa ermahnte sich selber dazu, nicht schadenfreudig zu sein.
Als die Kellnerin dann endlich die Speisekarten an sich nahm und sich vom Tisch entfernte, konzentrierte sich Tom sofort wieder auf Rosa. »Warum haben Sie für ihr Buch gerade dieses Thema gewählt? Ich meine diese Art von Liebe zwischen Adoptivgeschwistern, für die die beiden sich ja halten. War das nicht eine ziemlich riskante Angelegenheit, zumindest was die Erfolgsaussichten Ihres Romans betraf?«
»In der Tat ist die Liebe zwischen Adoptivgeschwistern hierzulande immer noch ein Tabuthema. Die meisten Leute schweigen lieber dazu, anstatt Stellung zu beziehen. Rechtlich gesehen ist die Situation natürlich ganz klar. Eine Heirat zwischen Bruder und Schwester ist generell verboten, auch wenn einer von beiden adoptiert wurde und sie deshalb keine biologischen Geschwister sind. Eine Beziehung zwischen ihnen ist jedoch erlaubt, vorausgesetzt beide sind 15 Jahre oder älter und gehen die Beziehung freiwillig ein. Aber es geht mir überhaupt nicht um die juristische Seite, sondern um die menschlichen Aspekte einer solchen Liebe. Um die inneren Kämpfe der Beteiligten und die Abgründe der öffentlichen Meinung. Mir geht es um den tiefen Zwiespalt in einem Menschen, der einerseits ganz tief liebt, andererseits die unausgesprochenen Regeln der Gesellschaft glaubt, respektieren zu müssen. Ich möchte zeigen, dass die Entscheidung für eine gesellschaftlich verpönte Liebe sehr schwer ist, manchmal sogar unmöglich.«
Tom nickte zustimmend. »Ich meine, für die anderen da draußen, für die Gesellschaft mit ihrer Doppelmoral ist das, was Victor fühlt, etwas Schmutziges, Widernatürliches. Das macht seine Liebe zu einer verbotenen Sache, die vom Gesetz zwar nicht untersagt ist, die seine Umwelt aber nie und nimmer dulden würde. Und weil er Claire so sehr liebt, muss er sie vor den Angriffen der Welt schützen, muss sie vor seiner Liebe schützen. Er könnte sie niemals freiwillig loslassen. Also bleibt ihm scheinbar nichts anderes übrig, als fortzugehen. Endgültig. Das ist sein großer Konflikt, das ist sein innerer Kampf gegen seine Liebe. Gegen sich selber.«
Rosa lächelte über den Enthusiasmus, mit dem Tom über ihren Protagonisten sprach. So, als sei Victor eine lebende Person. Das zeigte ihr, dass er die Rolle wirklich ernst nahm und sich mit ihrem Roman intensiv auseinandergesetzt hatte. Das war schmeichelhaft.
Rosa beeilte sich zu erwidern: »Besser hätte ich es nicht sagen können. Und als sich Victor dann nach vielen inneren Kämpfen und gegen alle zu erwartenden Widerstände vorbehaltlos zu Claire bekennt, bringe ich die nicht stattgefundene Adoption ins Spiel. Natürlich hat diese unerwartete Wendung wenig mit der Wirklichkeit zu tun, aber ich wollte unsere beiden Liebenden nicht über Gebühr quälen, sondern den Weg zu einer schönen, romantischen Hochzeit ebnen. Da habe ich meine dichterische Macht schamlos ausgenutzt und ganz fraglos auch mein kleines Faible für Melodramatik und Kitsch ausgelebt. Ob die beiden das zu schätzen wissen, können wir natürlich nur erahnen.« Rosa zuckte mit den Schultern und Tom lachte. Dann fügte sie hinzu: »Ich glaube wirklich, Tom, dass Sie ein Gespür für die Rolle des Victor haben. Heute habe ich den Schmerz auf ihrem Gesicht gesehen. Das war richtig überzeugend! Sie sind in meinen Augen ein guter Schauspieler, Thomas Patrick Savage!«
Tom wendete seinen Blick ab, öffnete ein wenig den Mund und schob den Unterkiefer eine Idee zur Seite. Dann lächelte er scheu. Das Kompliment machte ihn sichtlich verlegen. Er schaute auf irgendeinen Punkt in der Luft über dem Tischtuch. »Danke, das ist nett, dass Sie das sagen«, sagte er leise. Dann richtete er seinen klaren Blick wieder auf ihr Gesicht. »Ich versuche mich immer ganz in eine Person, die ich darstellen soll, hineinzufühlen. Ich überlege mir, wie sie sprechen, wie sie sich bewegen würde. Und dann übe ich das Tag und Nacht, bis ich es im Schlaf draufhabe.«
Tom sagte das ganz und gar nicht wichtigtuerisch, sondern mit einem gesunden Selbstvertrauen. Seine reizende Verlegenheit in bestimmten Situationen wich einem äußerst anziehenden Selbstbewusstsein, wenn es um seinen Beruf, seine Arbeitsweise ging. Das war allerdings nicht immer so gewesen, wie Rosa mittlerweile durch eine nächtliche, sehr intensive Internetrecherche wusste. Die Kritiker hatten ihn lange Zeit nicht wirklich ernst genommen, seine Filme manchmal sogar verrissen, was ihm sehr zugesetzt hatte. Bis er sie endlich davon überzeugen konnte, dass er zu Recht von den Regisseuren, den Kollegen, den Zuschauern, ja anscheinend sogar von den Kameras geliebt wurde.
Rosa bestätigte Tom sehr gerne in seiner Arbeit. »Ich hatte ja gestern Gelegenheit mitanzusehen, wie sehr sie in der Rolle des Victor aufgehen. Dieser Gang, als sie auf mich zukamen, das waren nicht Sie, das war Victor.« Als ob Tom Savage ihre Bestätigung gebraucht hätte!
»Sie haben das bemerkt?« Überraschung und echte Freude zeigten sich in Toms Gesicht. Vielleicht brauchte er ihre Bestätigung nicht, aber es gefiel ihm sichtlich, von ihr gelobt zu werden.
»Natürlich habe ich das bemerkt. Aber was sollte dieses, mit Verlaub gesagt, etwas unpassende Grinsen?«.
»Es tut mir furchtbar leid! Wirklich! Die Kollegen hatten mich gerade völlig aus der Fassung gebracht. Mit ihren Frotzeleien über… «.
»Über?«.
»Darüber, dass ich im Begriff war, der gestrengen Madame Mansier gegenüberzutreten, um mich ihren unerbittlichen Argusaugen zu stellen.«
»Gestrenge Madame? Wie eine ältliche Lehrerin? Das also ist mein Ruf?«
»Ja… nein… nicht wirklich. Eigentlich kennt Sie doch niemand von denen so richtig!« Schnell lenkte er ab: »Aber Sie haben ganz Recht. Das dumme Gegrinse passte gar nicht zum ewig nachdenklichen, ernsten Victor. Das war einfach nicht professionell.«
Rosa bohrte weiter, aber nicht ohne eine gewisse Häme: »Und wen sollte das danach im Auto darstellen? Als wir losfuhren? Das waren