Der Weg des Ritters. Helmut H. Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut H. Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847672487
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Stimme in mir, die leise zwar, aber die Stille übertönend warnte, dass nichts unwahrer sei als diese Ruhe. Weshalb übrigens von der Stadt B. ein solcher Reiz für mich ausging, ist schwer zu begreifen. Vielleicht, dachte ich, sollte, weil von hier alles seinen Anfang nahm, die Erneuerung Deutschlands auch von hier wieder ausgehen. Vielleicht blieb ich auch meiner Tante zuliebe.

      In Pauli hatte ich einen erwartet, mir gleich oder mir wenigstens ähnlich, möglicherweise etwas älter, vielleicht hätte ich ihn ohne diese Vorstellung nicht aufgesucht. In der Jugend ist die Zukunft wie ein Frühlingsmorgen, alles liegt in der blauen Ferne, alles scheint erreichbar, keine Mühe zu groß. Deshalb wird die Jugend den Krieg wie jeden Kampf gern annehmen. Bedauerlicherweise gehört der Jugend auch die Zukunft. Jede Generation fängt im Grunde bei der Erfahrung Null an, und jede Jugend verliert sich in ihrer Mehrheit in Anpassung und Gewohnheiten. Unsere Jugend lässt uns gerade dann im Stich, wenn wir die ihr eigene Treue zu sich selbst, Glauben, Kraft und Zuversicht dringend brauchten. Fixer Opportunismus beherrscht uns. Jugend vertritt immer das reinere Prinzip, sie ist noch nicht unter dem Druck von Kompromissen zur Jammerfigur geschrumpft. Jugend kann es sich leisten, Unschuld wie eine Fahne vor sich herzutragen. Mag sein, dass ich noch etwas von alledem besaß, als ich Pauli gegenüberstand.

      Bei meinem Antrittsbesuch hatte ich also mit einem jungen Mann gerechnet, mit dem sich die Bekanntschaft lohnt; ich fand einen um die vierzig, bestürzend gewöhnlich dazu; eine stark herabhängende Nase, kalte graue Augen, deren Pupillen durch lupenartige Gläser enorm vergrößert wurden, dicke, genießerische Lippen. Pauli gab sich nachlässig, er trug Hose und Hemd von trauriger Beschaffenheit. Ehe noch ein Wort gefallen war, wusste ich, dass ich ihn nicht mochte, und ebenso schnell oder noch schneller hatte sich Pauli entschlossen, mich zu hassen. Pauli sagte: »Ihre soziale Geschichte kenne ich wie mich selbst. Sie sind der HJ-Lümmel, der Nazistudent, der Bücherverbrenner und natürlich Antisemit, waren Landsknecht Hitlers und sein Büttel. Sie hassen alles Geistige. Ich bin Ihr Antipode. Linker, Intellektueller, Kulturmensch, Emigrant, von Ihresgleichen vertrieben. Ich bin Mose. Sie haben ausgespielt, ein neues Zeitalter dämmert herauf. Sie und Ihresgleichen sind auch historisch am Ende, nichts habt ihr mehr anzubieten, jetzt kommen wir dran.«

      Paulis Arbeitszimmer im Erdgeschoss einer requirierten Villa im vornehmsten Viertel der Stadt, weit im Westen, lag zwischen großzügig bebauten Grundstücken, Seen und Wäldern. Vor den Fenstern hingen ungewaschene Gardinen. Kostbare Möbel standen an den Wänden, aber auf ihnen lag Staub. Wo Pauli Gläser und Flaschen abzustellen pflegte, zeigten sich dunkle Ringe. Er wirkte hier wie auf der Durchreise. Ich fand, dass er und ich nicht zusammengehen sollten. »Ich habe mich nicht aufgedrängt. Sie haben mich eingeladen. Ihr Vortrag, also Ihre Meinung über mich, ist keine Grundlage für gemeinsame Arbeit.«

      Pauli las die Geschichte aus meiner Lazarettzeit mit unglaublicher Schnelligkeit. »Sie haben einen Blick für das Detail. Sie denken klar. In dieser Arbeit sind Sie wahr und dicht am Leben. Vermutlich gibt es in Ihrer Familie mehr als einen Juden, der das Gift der Wahrheit, die intellektuelle Säure in Ihr Blut gebracht hat. An das Blut glauben Sie ja doch wohl auch jetzt noch wie an den Heiligen Geist? Andererseits ist dieses Werk schlimm; kein Wort des Bedauerns, kein Mitleid mit den Opfern, kaum mit sich selbst.« Etwas steckte hinter dem Gerede, Pauli gebrauchte Phrasen, ähnlich wie ich in meinem von mir selbst verworfenen Tagebuch. Später sollte ich herausfinden, dass Pauli diese Phrasen gegen sich selbst richtete, auch dann noch, als sie für andere längst ohne Bedeutung waren oder als falsch erkannt wurden.

      Er legte die Blätter zusammen, deponierte sie auf einem Stapel Manuskripte und fragte: »Was können Sie denn sonst noch? Was würden Sie in einer Redaktion tun? Von Ihren Arbeiten abgesehen, die will ich später in Ruhe lesen.« Er war sich also bewusst, dass er zu schnell las, aber er war zu kritisch oder umsichtig, es bei dem einen Mal zu belassen. Eine Weile fixierte er mich, als überlegte er, was mit mir anfangen sollte. Er wollte von mir hören, was ich tun könnte, wie ich mir die Arbeit hier dachte. Ich erzählte ihm, dass ich zwar nur ein Jahr studiert hatte, Sprachen und Geschichte, dann in den Krieg gezogen war, Anfang vierundvierzig verwundet wurde und Monate im Lazarett verbracht hatte. Sein Blick streifte meinen Arm. Mich genierte die mit Haaren bewachsene Hand, und ich suchte sie zu verbergen. »Arm ist durchschossen«, sagte er, und dann kam der Satz, dass ich Massel gehabt hätte. »Zu Ende der Weg des Ritters, aber auch einarmig sind Sie noch gefährlich genug.« Ich antwortete: »Also leben Sie wohl! Vielleicht haben Sie mehr Glück auf Ihrem Weg.« - »Empfindlich ist er auch noch«, sagte Pauli. »Ich wollte von Ihnen wissen, was Sie in meiner Redaktion tun können. Ich bemühe mich um eine Zeitschriftenlizenz für alle Besatzungszonen. Da haben Sie mein ganzes Dilemma. Ich hasse diese Bürokratie und klebe doch daran wie die Biene am Honig. Ich sammle den süßen Stoff, aber für andere. Ich liebe Wagner und Goethe, Friedrich den Großen und Beethoven, ich liebe sogar den deutschen Mist und Mief. Gern wäre ich damals mit euch jungen Männern mitmarschiert und hätte mitgebrüllt und heroisch ausgesehen: Deutschland, Deutschland über alles. Auch ich hätte gern mit meiner Heldenbrust die feindlichen Lanzen aufgefangen, die mein Deutschland bedrohten. Aber ihr wolltet mich nicht. Wir werden uns also gut verstehen. Freilich kann auch ich mich mal in der teutonischen Seele irren, doch Sie werden mich daran erinnern, wie ihr wirklich seid.«

      So fing ich bei Pauli an, ahnungsvoll auf manches gefasst.

      Alle Selbsttäuschungen fanden mit dem Verschwinden Paulis ihr Ende. Bei der Überfahrt von Palermo nach Ägypten fühlte ich mich erleichtert. Menschen, Orte, Abstrakta hatten den Weg von meiner Stunde nach zwölf bis hier ausgefüllt; die Menschen Pauli und Eva, die Orte B. und Hiroshima - letzterer gehört auch in die Kategorie meiner Abstrakta. Erst auf dem alten Dampfer wurde mir alles klar. Ich hatte im Grunde für mich gekämpft, der Krieg war mein persönlicher Krieg gewesen, und alle meine Handlungen im Krieg waren auf mich bezogen, mochte ich auch einem fremden Willen gedient haben. Wir, die Jugend des Dritten Reiches, waren der Auseinandersetzung mit diesem Reich und mit uns selbst dadurch entzogen, dass wir den Streit mit feindlichen Kräften ausfochten. Unsere eigenen Toten rechtfertigten das Töten der anderen. Als ich mit Pauli zusammengetroffen war, lagen die Dinge schon wieder ganz anders. Ich zweifelte an der verändernden Kraft der Gewalt, und nach meinen Erfahrungen konnte ich diese Zweifel begründen, denn alle Gewalt hatte nichts an der Welt gebessert. In meine Friedensphase fiel die Gewalt der anderen. Ich taumelte Pauli in die Arme und in meinen tödlichen Konflikt, wie konnten wir, Jäger und Gejagter, künftig miteinander leben? Mein Konflikt endete, als Pauli auf mich schoss und mich verfehlte, obschon ich stehen blieb und ihm Gelegenheit gab, mich zu töten. Der Anlass zu Paulis Entgleisung war seiner nicht würdig. Aber davon später. Um auf die Orte zurückzukommen: B. war konkret, der Ortsteil Roseneck und das untergegangene Hiroshima ließen sich auf der Karte nachweisen. Andererseits verband sich für mich Hiroshima eher mit dem Zustand, den Pauli täglich in mich hineinzauberte, gerade weil wir nur wenig über den Untergang dieser Stadt wussten. In der Frage, wie es weitergehen sollte, mündeten alle Überlegungen. Wenn es schon ein Weiter gab, so mussten es existenzielle Überlegungen sein. Durch einen Krieg lässt sich die Welt nicht völlig zerstören, Keime des Lebens bleiben erhalten und fortpflanzungsfähig. Insekten und die Säugetierspezies Mensch können Selektionen überdauern, allen Naturkräften trotzen, zu sehr selbst primitive Natur die einen, allzu anpassungsfähig an Gifte und Strahlungen, Mängel und Klimabedingungen die anderen. Menschliches Sperma lässt sich im Kühlschrank bewahren, Embryonen bedürfen keiner menschlichen Mutter. Das ahnten wir damals, aber wie ging es historisch weiter? In ein Vakuum strömt alsbald fremde Energie einem Naturgesetz zufolge. Unsere Verwandlung begann früh, eigentlich schon während der letzten Kämpfe in dieser Stadt, deren Fall zwar nicht entschieden hatte, was historisch nicht längst entschieden war, die aber symbolisch für das Ende einer Epoche europäischer Nationen stand. Es begannen die Rückgriffe auf Ideologien und Heilslehren. Oder sind das Fortschritte? Gleichviel, dieser Prozess sammelte Kräfte und schied andere aus. Manchmal verlief er in oberflächlichem Gezänk, auf den lächerlichen tagespolitischen Zweck gerichtet. Mit Neugier folgte ich Pauli auf dem Weg in die soziale Utopie des Platon, des Campanella, Saint-Simon und immer weiter. Pauli war ein Einzelgänger wie ich. Eva ging die ihr vorbestimmten Wege, obschon diese Wege an kein Ziel führten, es sei denn ans Ziel: Herrschaft über den Mann. Alle drei waren wir selbstsüchtig und erdichteten Gründe, um unsere wirklichen Antriebe hinter Worten zu verstecken. Wie das Radium gaben wir täglich