Der Weg des Ritters. Helmut H. Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut H. Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847672487
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entsprach und vor allem, ob ich immer so dachte und empfand. Beispielsweise schrieb ich Sätze wie diesen: Am Soundsovielten haben wir den Elbrus bestiegen, für den Siegeszug meines Volkes. Ich wünsche mir, schrieb ich noch, dass dieses Volk über das herrscht, was es erobert. Später will ich in Indien leben, ich will meiner germanischen Berufung, die Welt besser zu ordnen, folgen; gerecht, streng. Andere Rassen werden niemals den sittlichen Rang erreichen, der zu dieser Berufung nötig ist. Der Süden verweichlicht, Luxus verführt. Daher wird es nötig sein, ein hartes Training beizubehalten. Kampf mit Waffen, Hunger und Askese. Nur so kann ich mir die Überlegenheit meines Blutes bewahren. Einige Monate später verwarf ich alles als abgeschrieben, kindisch und lächerlich. Es waren nicht meine eigenen Gedanken. Aber welche Vorstellungen kamen eigentlich aus mir selbst? Ich hatte nie den Süden gesehen, also beschrieb ich einen Zustand, von dem ich keine Ahnung haben konnte, wenn ich über den angeblich verweichlichenden Süden urteilte. Was ich nach längerem Suchen wirklich bei mir entdeckte, war Neugier auf diesen Süden. Um diese Zeit verwies mich meine Tante darauf, Sorgfalt in der Beobachtung als Grundlage meines Talents zu üben. So wendete ich mich den Erlebnissen im Felde zu, beschrieb beispielsweise einen Panzerangriff. Hier stand ich auf dem festen Boden eigener Erfahrung, wie ich sofort spürte, und da dem Text jegliche Phrase fehlte, so las sich später alles lebendig und frisch. Meine Tante schickte mir auch Bücher ins Lazarett. Jünger, Beumelburg, Renn und Zweig, weil diese Männer den Krieg zum Stoff gewählt hatten. Es ist immer besser, schrieb meine Tante, bei dem zu bleiben, was man als wahr erkannt hat, auch wenn man später erkennen muss, sich geirrt zu haben.

      Vom Lazarett ging ich nach Bad T., im Februar und übrigens rein zufällig, obschon ich wusste, was hinter dem Begriff »Alpenfestung« steckte. Einen Marschbefehl hatte ich in der Tasche. Dort saß ich fest, fand aber einen Stabsarzt, der versuchen wollte, meinen Arm zu flicken. Er zeigte mir auf einem Bild den Querschnitt des Nervs. Er sah aus wie ein gebrochenes Kabel. Ich zweifelte sofort daran, dass der Arzt das Kunststück zustande bringen könnte, diese vielen Fasern zusammenzuführen, und verweigerte meine Zustimmung zur Operation. Lieber wollte ich warten, bis ich Sauerbruch wiedertraf, der mich einmal untersucht und mir Hoffnung gemacht hatte. Das Lazarett wurde aufgelöst, vielmehr verschwanden einer nach dem anderen, Ärzte wie Pfleger. Ich sollte bleiben. Noch war Krieg, aber ich spürte das Ende. Ein Kammerbulle verschaffte mir Hosen, Schuhe und Jacke, ich bekam Geld und Papiere und stand auf der Straße, ohne zu wissen, wohin. Der Ort barst vor Flüchtlingen, die nach Italien oder in die Schweiz und noch weiter wollten. Ich kannte keinen, fand weder ein Privatquartier noch ein Hotelzimmer. Jede Minute konnten die Amerikaner eintreffen und in diesen Korb mit lebenden Aalen greifen. In Zivil verkleidete Offiziere sahen mich entweder gar nicht, oder sie sahen über mich hinweg. Ich entschloss mich, nach B. zu gehen, zu meiner Tante. Bei Magdeburg überwand ich die Elbe, und ich kam in die Hauptstadt, als der letzte Bunker geknackt war. Die Trümmer rochen nach Brand und Leichen. Auf den Straßen lagen Gefallene. Hungernde schnitten Aas aus dem Fell verwesender Zugpferde. Es gab kein Wasser - eigentlich gab es gar nichts.

      Meine Tante schickte eine meiner Kriegsgeschichten an eine Zeitung; sie wurde angenommen und gedruckt. Über Nacht war ich Schriftsteller geworden, wie meine Tante sagte. Sie freute sich, aber ich blieb zurückhaltend. Gedruckt las sich alles ganz anders, und in den paar Monaten hatte sich schon wieder eine andere Sicht bei mir eingestellt. Um sie nicht zu kränken, wollte ich ihr nicht sagen, dass die Saat, die sie gesät, nicht aufgegangen war. Es ging mir um die genaue Wiedergabe eigener Erlebnisse, ohne Aufmachung und Kunst. Ob diese Art des Sehens einen Schriftsteller hervorbrachte, wollte ich abwarten. Übrigens dachte ich, dass meine Natur mehr nach praktischer Tätigkeit drängte. Gleichwohl schrieb ich täglich ein paar Stunden, konnte auch gar nichts anderes tun, ich, der Einarmige, und ich las viel. Neue Bücher gab es noch nicht, aber Zeitschriften.

      Auf Drängen des Verlages, der mehr von mir haben wollte, versuchte ich es mit einer anderen Form. Ich erfand Figuren, Soldaten und Zivilisten, legte ihnen bestimmte Reden in den Mund und schrieb ihnen Denkweisen zu. Was ich selbst dachte und wie ich redete, so schneiderte ich mir meine Puppen. Damit entstand zwar so etwas wie Geschichten, aber ich merkte, dass ich mit meiner ersten Methode dem Kern des Lebens viel näher gekommen war. Meine Tante, die immer als Erste las, was ich geschrieben hatte, die mich pflegte und ernährte, riet mir, auf diesem Weg nicht weiterzugehen. Ich gehorchte ihr, aber nun fehlte es mir an Stoff; was ich wirklich gesehen hatte, schien mir aufgebraucht.

      Es ging damals alles sehr schnell, es musste schnell gehen, sonst wäre es überhaupt nicht gegangen. Wieder schickte meine Tante einige der Sachen an den Verlag. So kam ich mit Pauli in Berührung. Weshalb gerade Pauli, weiß ich nicht. Es fehlte an jungen Leuten, die sich formen ließen, die biegsam genug waren, glaube ich. Vermutlich spielte die Ahnung aufseiten Paulis eine Rolle, in mir einen Gegner zu finden, der ihn munter bleiben ließ. Als ich zu ihm ging, um mich vorzustellen, ahnte ich natürlich nicht, was mich erwartete. Meine Tante hatte mich, so gut sie konnte, ausstaffiert. Ich trug Anzug und Hemd und sah aus wie ein heruntergekommener Gentleman, ein zu groß geratener, zu blonder, magerer junger Mann, der nichts kann, aber eine hohe Meinung von sich hat. Soweit die Vorgeschichte - ein Fünfundzwanzigjähriger hat keine längere.

      Pauli befasste sich also gerade mit seinem Plan einer überregionalen Zeitschrift, die er »Koordinaten-Ostwest« nennen wollte, und er beschäftigte sich mit der neuen Lage, die durch jene erste auf der Grundlage der modernen Physik gebaute Bombe ausgelöst worden war. Die Geburtsstunde der Bombenangst, der Urangst, sagte Pauli und er prophezeite für die Zukunft ganz neue Antriebselemente des Lebens. Noch stand er ganz unter dem Eindruck eines positiven Friedens. Im September und Oktober sah für Pauli alles noch sehr einfach aus. Einstein führte das naturwissenschaftliche Lager der Guten an, die im Besitz des Mittels bleiben sollten, die Bösen niederzuhalten. Noch gab es keine Bilder und keine Beschreibungen aus Hiroshima. Pauli konnte sich freuen, dass die Hitlerleute ohne die Wunderwaffe, die sie erstrebt hatten, abtreten mussten. In diesem Zusammenhang fiel dann wohl das Wort vom Weg des Ritters, dem Ideal soldatischer Praxis und zivilen Ethos. Pauli sagte: »Man wird ab jetzt nur noch an Altersschwäche sterben. Wir haben die äußerste Begrenzung des Bushido erreicht. Ende des Weges. Aus. Sinnlos geworden. Der Krieg ist jetzt immer ein absoluter Krieg, der alle Menschen, die Natur und den Kosmos umfasst. Wir gleiten zurück ins Chaos der Materie, wenn wir ihn jemals führen. Und doch ist es gut, dass wir diese Waffe zum Zwecke der Angst besitzen.«

      Ich entdeckte den Frieden zuerst nicht in philosophischen Umschreibungen wie Pauli, sondern erlebte ihn als Zustand. Seit meiner frühen Jugend sah ich zum ersten Mal wieder einen stillen Sommer am Fluss, sah eine Ebene grünen und nicht