„Sogar eines der größten geschlossenen Waldgebiete des Rheinlands“, erklärte der Ranger mit sichtlichem Stolz. „Über dreiunddreißig Quadratkilometer. Zur Hälfte Buche und Eiche, der Rest Eiche, aber deren Anteil nimmt ab. Einige Bereiche des Waldes überlassen wir sich selbst. Umgestürzte Bäume und abgebrochene Ästen lassen wir im Wald, so dass wir allmählichen den Urzustand wieder herstellen können. Wissen Sie, Totholz bietet Flechten, Pilzen, Moosen und einer Menge Insekten einen natürlichen Lebensraum. Daraus ziehen Tiere und Pflanzen ihren Nutzen, die hier ein seltenes Refugium gefunden haben.“ John Turners Lächeln vertiefte sich. „Hier finden sie genügend Platz und Ruhe, sich ungestört zu entwickeln und ihre Verhaltensweisen auszuleben. Besonders für störanfällige Arten ist so ein geschützter Lebensraum entstanden.“
„Aha“, sagte Lydia, deren Interesse sich in überschaubaren Grenzen hielt.
Ihr Mann Klaus hingegen nickte. „Scheint aber nicht sehr vielen bekannt zu sein, sonst wäre hier mehr los.“
„An den Wochenenden und in der Urlaubszeit ist hier die Hölle los. Aber viele Besucher des Parks fahren natürlich auch zur Dreiborner Hochfläche und, natürlich, an die Urfttalsperre.“
„Ha“, machte Lydia triumphierend. „Ich sagte doch, wir hätten zur Talsperre fahren sollen.“
Im Gegensatz zu Klaus, nahm Turner ihr die Bemerkung nicht übel. Der Ranger deutete auf eine Karte, die an der Wand der Station hing. „Glauben sie mir, der Besuch des Parkbereiches lohnt sich. Wir konnten hier viele Farn- und Blütenpflanzen nachweisen, von denen eine ganze Reihe auf der Roten Liste der Bundesrepublik oder der des Landes stehen“, erklärte er mit sichtlichem Stolz. „Öffentlichkeitswirksamer sind natürlich die größeren Tiere wie Luchs, Wildkatze oder Rothirsch. Auch Rehe, Mufflons und Wildschweine, die hier ein Rückzugsareal gefunden haben. Das heißt für Sie, dass Sie sich im Zweifelsfall zurückziehen. Die Natur geht hier vor, aber das werden Sie als Naturfreund ja sicherlich verstehen.“
„Ja, natürlich.“ Klaus Proschke deutete auf seine Kamera. „Aber fotografieren wird man doch wohl dürfen, nicht wahr?“
„Selbstverständlich. Hier, auf der Karte sehen Sie die Wanderwege und den Jägerpfad. Ein Stück nördlich fließt der große Böttenbach. An ihm sind sogar einige Biber heimisch geworden.“ Turner sah das Interesse in den Augen von Klaus Proschke und lächelte entschuldigend. „Der größte Teil des großen Böttenbachs liegt aber im abgesperrten Bereich.“
„Dann sind die interessanten Dinge also hinter diesem Zaun“, brummte Klaus.
„Ich kann Ihnen versichern, als Naturfreund werden Sie voll auf ihre Kosten kommen. „Folgen Sie am Besten dem Ziegenbendges Weg. Alles Rechts von ihm und jenseits des Zauns können Sie fotografieren, aber Sie dürfen das Areal natürlich nicht betreten. Ein gutes Stück den Weg entlang, fließt der Bach auf die linke Seite hinüber. Es könnte also durchaus sein, dass Sie doch einen Biber zu Gesicht bekommen.“ Er sah die Proschkes mahnend an. „Sie sollten aber auf den vorgeschriebenen Wegen bleiben.“
„Selbstverständlich.“
Turner schob seinen Rangerhut ein Stück in den Nacken. „Alles auf der rechten Seite des Ziegenbendges Weges betreten selbst wir Ranger nur in absoluten Ausnahmefällen.“
„Verstehe“, seufzte Klaus. „Das Rückzugsareal.“
„Genau, das Rückzugsareal. Da müssen wir um Ihr Verständnis bitten.“
„Kein Problem“, versicherte Klaus Proschke. „Ich wollte mir ohnehin erst einmal einen Überblick verschaffen.“
„Es wird Ihnen gefallen“, versicherte John Turner.
„Gibt es hier gefährliche Tiere?“, fragte Lydia rasch, als der Ranger Anstalten machte, in die Baracke zurück zu treten.
„Nun, wir haben hier Wildschweine und ein Luchspaar. Aber die Wildschweine haben ihr Revier mehr im Süden, in Richtung auf den alten Feuerwachtturm. Von dort aus kann man sogar ihre Suhle sehen und gelegentlich lassen sich da ein paar hübsche Fotos schießen. Die Luchse halten sich hinter der Absperrung auf der anderen Seite des Böttenbachs auf. Dennoch sollten sie ganz allgemein beachten, sich keinen Wildtieren zu nähern und deren Ruhe nicht zu stören. Ansonsten beachten sie die allgemeinen Vorschriften.“
„Weiß ich“, meinte Klaus ungeduldig. „Ist nicht mein erster Naturpark. Auf den Wegen bleiben, nicht rauchen und kein offenes Feuer, keine Abfälle und so weiter und so weiter.“
„Und keine Musik oder lautes Geschrei“, fügte Turner auflachend hinzu. „Der Besuch des Parks ist natürlich kostenfrei. Das gilt auch für die Wegekarte. Falls Sie Interesse an Souvenirs, Informationsschriften oder Erfrischungen haben, erhalten Sie die im Laden von Frau Honnig.“ Der Ranger deutete zum Kiosk. „Gehen sie einfach hinüber und klopfen sie an die Tür. Nun, dann also einen schönen Aufenthalt. Falls etwas sein sollte, so können sie die Rangerstation über die 113 erreichen. Sie haben ein Mobiltelefon dabei?“
„Ein Handy? Klar, haben wir.“
„Handy, sicher.“ Turner zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich kann mich mit diesem deutschen Begriff noch immer nicht richtig anfreunden.“ Er hob grüßend die Hand und ging ins Gebäude zurück.
Klaus Proschke vergewisserte sich, dass er Reserveakku und zusätzliche Chipkarte für seine Digitalkamera eingesteckt hatte. „Schön, machen wir uns auf den Weg.“ Er deutete vor sich. „Da, den Weg. Der führt am Zaun und diesem Böttenbach entlang.“
Ab der Rangerstation war der Ziegenbendges Weg kaum mehr als ein Feldweg. Rechts und links seiner Mitte hatten die Reifen von Fahrzeugen Spuren hinterlassen, die jedoch nicht besonders tief waren.
„Wir hätten auch mit dem Auto fahren können“, meinte Lydia prompt.
„Die fahren hier mit Forstfahrzeugen herum“, entgegnete Klaus. „Als Besucher geht man in einem Naturpark zu Fuß. Du fährst beim Einkaufsbummel doch auch nicht mit dem Auto durchs Geschäft, oder?“
Lydia sah ihn missbilligend an und fächelte sich frische Luft zu.
Der Weg führte in eine urwüchsige und unberührte Landschaft hinein. Wildblumen und Gräser wucherten am Wegesrand, während zwischen den Bäumen dichte Farnbüschel wuchsen. Lydia verzog das Gesicht, als ein dicker Käfer vor ihr über den Weg kroch und wurde dann vom Anblick eines Eichhörnchens wieder versöhnt. Manchmal wichen die Bäume etliche Meter zurück, an anderen Stellen führte der Pfad unter ihren schützenden Zweigen hindurch. Kleintiere und Insekten huschten und summten umher. Ab und zu war das Knacken eines zerbrechenden Zweiges zu hören.
„Ich hoffe, wir sehen etwas Interessantes.“ Klaus fingerte an seiner Kamera. „Nicht, dass wir den ganzen Weg umsonst gemacht haben.“
Irgendwo war ein Specht zu hören und Lydia zuckte zusammen. „Ich hoffe, wir begegnen keinem Wildschwein. Die sollen gefährlich sein.“
„Du hast ja gehört, die sind woanders.“
„Aber dieses Knacken hört sich an, als würde uns jemand verfolgen.“
„Ist wahrscheinlich ein Hirsch oder ein Reh“, erwiderte er. „Außerdem ist der Wald hier ziemlich unberührt. Manchmal brechen alte Bäume auseinander.“
Der Weg führte sie am Zaun zum abgesperrten Bereich entlang. Klaus betrachtete das Metallgeflecht mit Unbehagen. „Ist ziemlich neu“, brummte er. „Den haben die erst vor Kurzem aufgestellt.“
„Ist ja alles neu hier. Bestimmt wegen der Luchse.“ Lydia schauderte zusammen. „Die sollen gefährlich sein.“
„Für dich ist ja jedes Tier gefährlich, dass du nicht als Kleidungsstück erwerben kannst.“
„Was soll das denn heißen?“