Thomas und Lene gaben der im Bett Liegenden die Hand und zogen sich zwei weitere Stühle heran.
»Ich möchte Ihnen natürlich ebenfalls ganz herzlich danken. Auch wenn Sie mein Lieblingsshirt zerrissen haben«, versuchte sich Lena Himmelreich in einem Scherz, brach aber sofort in Tränen aus, die ihre Gefühlslage wohl treffender widerspiegelten.
Ihre Mutter ergriff ihre Hand und streichelte sie zärtlich. Thomas lief knallrot an. Lene konnte in diesem Moment beobachten, wie die Trauer der Tochter die Fassade bei Frau Himmelreich ins Wanken zu bringen drohte. Sie musste eine sehr beherrschte Person sein. Lene empfand großen Respekt, war sich aber nicht sicher, ob ein derartiges Verhalten wirklich gesund war. Sicherlich wollte sie ihre verletzte Tochter nicht zusätzlich belasten.
Wortlos hatten sie gewartet, bis Lena wieder ruhiger wurde. Thomas Sprengel nahm den Ball auf: »Mir war keine Wahl geblieben. Das tut mir leid. Das alles tut mir sehr leid für Sie. Ich hätte Sie lieber unter anderen Umständen kennengelernt.«
Himmelreichs Tochter nickte leicht. »Sie können gerne ›du‹ zu mir sagen. Ich heiße Magdalena, für gute Freunde Lena.« Ihr Blick schweifte ins Leere. »Ich könnte versucht sein, Sie als meine zweiten Eltern zu betrachten.«
»Wenn das so ist«, war die Kommissarin gerührt, »dann gilt das auch für dich. Helene, aber bitte immer nur Lene.« Sie deutete auf ihren Mann. »Das ist ab sofort Thomas.«
Der setzte umgehend zur Bekräftigung sein Sonntagslächeln auf.
Magdalenas Kopf wandte sich den beiden zu. Es dauerte eine Weile bis sich ihr Blick wieder fokussierte. Lena hatte große, braune Augen, denen Lene trotz des Schleiers, der über ihnen lag, ansehen konnte, eine normalerweise offene und warmherzige Person vor sich zu haben. »Das ist lieb«, gelang der Bekümmerten nur ein schwaches Lächeln.
»Was machen denn deine Beine«, versuchte Lene, sie von ihrem psychischen Schmerz abzulenken.
Die junge Frau seufzte. »Alles nicht so schlimm. ... Thomas hat mich offensichtlich sehr schnell aus den Flammen gezogen. Man wird sehen, was zurückbleiben wird.« Erneut liefen ihr Tränen über die Wangen, still aber stetig.
Lene stand auf und streichelte ihr sanft über die Wange. »Es gibt nichts, was ich dir in diesem Moment sagen könnte, um deinen Schmerz zu erleichtern. Aber ich sehe, wie sehr dich deine Mutter liebt. Das ist ein Geschenk, das dir helfen wird.«
»Ich weiß«, erwiderte Magdalena. Aber ihr Blick, der nur unendlich große Trauer ausdrückte, zerriss Lene fast das Herz.
»Lena, Frau Himmelreich, wir lassen Sie dann besser wieder alleine. Wenn du möchtest, kommen wir dich noch einmal besuchen, bevor wir abreisen müssen«, bot sie Lena zum Abschied an.
»Ihr seid jederzeit willkommen. Ich habe das vorhin durchaus ernst gemeint«, antwortete sie aufrichtig, bevor sie wieder in den Tiefen ihres Inneren verschwand.
Auch Thomas drückte ihr leicht die Hand, nachdem er die Stühle wieder zurückgestellt hatte. »Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte. Bis bald.«
Frau Himmelreich war ebenfalls aufgestanden. »Ich komme noch kurz mit auf den Gang.«
Sie schloss die Tür behutsam hinter sich und begleitete Thomas Sprengel und Lene Huscher bis zum Fahrstuhl. »Es ist schwer für das Mädchen. Sie hatten ein sehr inniges Verhältnis. Er war aber auch ein wunderbarer Vater ... und Ehemann ...« Frau Himmelreich stockte bei dieser Bemerkung und hatte sichtlich Mühe, ihre eigenen Tränen zurückzuhalten. »Sie macht sich zu allem Überfluss auch noch Vorwürfe, weil die Explosion genau in dem Moment stattfand, als sie die Backskiste hatte zufallen lassen. Aber davon fliegt nichts in die Luft«, begann Frau Himmelreich mit ihrem Schicksal zu hadern.
»Da haben Sie recht«, stimmte ihr Thomas Sprengel zu, der sich noch erinnerte, wie jemand an Bord einen Ballon aus einer Kiste geholt hatte. »Sie wird das noch begreifen. Vielleicht kann die Untersuchung des Vorgangs dazu beitragen, ihr diese Selbstvorwürfe zu nehmen.«
Frau Himmelreich nickte nachdenklich.
»Ich bin überzeugt, dass Ihre Tochter das schaffen wird«, wollte Lene Huscher sie ein wenig trösten.
Magdalenas Mutter schnaufte schwer. »Danke für Ihre Anteilnahme und für alles, was Sie auf sich genommen haben.«
»Keine Ursache. Wir sind froh, dass wir wenigstens etwas tun konnten«, wehrte Thomas ab.
»Ich würde Sie gerne zur Beerdigung meines Mannes einladen«, hatte sich Frau Himmelreich von einer Sekunde auf die andere wieder völlig im Griff. »Es würde mich sehr freuen, wenn Sie das einrichten könnten. Ich erstatte Ihnen selbstverständlich auch die Reisekosten.«
Lene und Thomas schauten sich etwas unsicher an. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wo wird denn die Beisetzung stattfinden?«, erkundigte sich Lene mit einem Gefühl, als laufe sie auf rohen Eiern.
»Wir leben in Heidelberg«, ergänzte Thomas.
Ungläubig schaute Frau Himmelreich die beiden an. »Die Welt ist doch manchmal klein«, murmelte sie mehr zu sich selbst, gab sich dann aber schnell erneut einen Ruck. »Da kommen wir auch her. Hätten Sie vielleicht eine Adresse für mich, falls wir uns doch nicht mehr sehen sollten?«, bat sie geradeheraus.
Ohne in diesem Moment weiter auf diesen Zufall einzugehen, gab Lene Huscher ihr eine Karte, auf deren Rückseite sie ihre gemeinsame private Adresse wie Telefonnummer notiert hatte. Das »Pling« des Aufzugs war zu hören und dessen Tür schob sich langsam auf.
»Vielen Dank, Frau Huscher. Ihnen auch nochmals in ganz besonderer Weise, Herr Sprengel. Es war sehr nett, dass Sie bei Lena vorbeigeschaut haben.«
»Wir werden uns bestimmt von Lena und Ihnen verabschieden, bevor wir abreisen«, entgegnete Lene Huscher, während sie mit Thomas in den Aufzug stieg. Kurz bevor sich die Türen schlossen, konnte sie gerade noch sehen, wie sich die Miene von Frau Himmelreich veränderte und die Witwe sich, wie mit einer schweren Last beladen, umwandte.
Schweigend, wohl auch ein wenig bedrückt, gingen Thomas und Lene zum »Brownes Beach«, wo sie sich ein kleines Restaurant suchten, in dem sie zu Abend aßen. Von dort machten sie noch einen Spaziergang zum nahe gelegenen »Needhams Point«. Direkt hinter den alten Kanonen hatten sie ein Bänkchen gefunden, von dem aus sie die Sonne beobachteten, die langsam im Meer versank. Lene schmiegte sich an Thomas, der sie zärtlich in den Arm nahm.
»Du musst mir versprechen, immer auf dich aufzupassen«, flüsterte Lene mehr, kaum lauter als das Rauschen der Wellen, die leicht an das Ufer brandeten.
Thomas schaute sie an: »Du aber auch. Ich möchte keineswegs in eine Situation wie die der Himmelreichs geraten.«
Sie gaben sich einen Kuss, der mehr ausdrückte als jedes Versprechen. Danach sahen sie glücklich und doch ein wenig melancholisch der Sonne zu, wie diese endgültig verschwand und den Tag beendete.
Kapitel 9
Horst Jung frühstückte auch an diesem Morgen recht gemütlich mit seiner Frau Heike. Wie häufig hatten sie sich die »Rhein-Neckar-Zeitung« geteilt, weil sie beide nicht unbedingt die Frühaufsteher und schon gar nicht frühmorgendliche Vielredner waren. Aus ihrer Sicht musste der Tag langsam beginnen, wenn sie denn schon mit dem Wecker aufstehen mussten. Horst hatte beiden in aller Ruhe noch frischen Kaffee nachgeschenkt, füllte sich Milch dazu und nahm einen Schluck, den er gerade im Begriff war herunterzuschlucken, als seine Augen an einer Schlagzeile hängen blieben: »Heidelberger vor Barbados tödlich verunglückt.« Vor Schreck verschluckte