Michael H. Schenk
© Michael H. Schenk 2010
Printausgabe Arcanum Fantasy
© Michael H. Schenk 2018
Erstmalige e-Book-Ausgabe
Varnum nahm seine beiden Bartzöpfe nacheinander in die Hände und folgte aufmerksam jeder Flechtung des Haarverlaufes, bis hinunter zu den kleinen Lederbeuteln, welche die Enden verhüllten. Er war stolz auf seine Zöpfe. Trotz seiner Jugend reichten sie ihm bereits bis zu den Knien, genau das richtige Maß für einen Zwergenmann. Nur die blassen Spitzen an den ansonsten tiefroten Haaren verrieten, das Varnum gerade erst an der Schwelle stand, ein richtiger Mann zu werden. Wenn sie gleichmäßig tiefrot gefärbt waren, dann konnte er damit rechnen, Eindruck auf die Frauen und Mädchen zu machen. Tiefrote Zöpfe und den zweiten Namen, das brauchte er, um im Rang aufzusteigen und eine Frau suchen zu dürfen. Gefunden hatte er sie eigentlich schon. Besana, die hübsche junge Zwergin, die in der Heilerstube arbeitete. Sie ahnte wohl auch, dass Varnum mehr als nur ein Auge auf sie geworfen hatte, doch es war ihm noch nicht gestattet, sich ihr ernsthaft zu nähern. Man legte Wert auf die Traditionen des Zwergenvolkes, im Clan der Eldont´runod.
Er seufzte leise und legte die Zöpfe in den Nacken, um sie dort sorgfältig zu verknoten.
Oldrum, sein Freund, hatte das leise Seufzen gehört. Besorgt runzelte er die Stirn. „Ist alles in Ordnung? Oder müssen wir schneiden? Ich habe ein gutes Messer.“
„Ich habe selbst ein gutes Messer“, erwiderte Varnum und legte die Hand unbewusst an den Griff der stählernen Klinge, die in der rechten Beinscheide steckte. „Nein, Oldrum, alles ist in Ordnung.“
„Na schön, es ist deine Luft, um die es geht.“ Oldrum strich über einen seiner eigenen Zöpfe. „Ich pumpe ja nur und du weißt, du kannst dich auf mich verlassen, aber wenn deine Zopfhaare in das Atemventil geraten…“
„Ich weiß. Ich tauche ja nicht zum ersten Mal.“
„Heute Morgen scheinst du ein bisschen gereizt, Varnum. Wenn du dich nicht wohl fühlst…?“
„Es ist alles in Ordnung“, bekräftigte Varnum. Entschuldigend sah er seinen Freund an und lächelte. „Wirklich. Ich habe schlecht geschlafen, das ist alles.“
Oldrum nickte und stützte sich auf den Schwengel der großen Luftpumpe, die am Rand der Taucherplattform stand. „Du musst ausgeruht sein und dich konzentrieren können.“ Er sah Varnums Gesicht und grinste breit. „Schon gut, ich weiß, alles ist in Ordnung.“
„So ist es.“ Varnum prüfte die Schnallen und Dichtungen seines Tauchanzugs. Er tat das, wie alles, was mit dem Tauchen zusammenhing, sehr sorgfältig. Sein Leben hing davon ab und nicht nur seines, denn sie würden in der Gruppe „unten“ sein und schürfen.
Der Tauchanzug ähnelte einer Rüstung, die den Oberkörper vollständig umhüllte. An der Hüfte und den Armen befanden sich breite Ledermanschetten, die gut gefettet waren und mit Riemen eng geschlossen wurden. Es schnitt ein wenig ins Gewebe, aber nicht so, dass es besonders schmerzhaft gewesen wäre oder gar den Blutkreislauf unterbrochen hätte. Jeden Tag mussten die Teile überprüft werden. Eine Undichtigkeit konnte fatale Folgen haben. Natürlich ließ sich das nie ganz ausschließen, denn man musste sich ja in den Tauchanzügen bewegen. Meist waren es nur wenige Schlucke Wasser, die in den Helm sickerten, bis das Leder in der Nässe ausreichend gequollen war. Im Süßwasser war das unproblematisch. Wenn es nicht zu viel wurde, konnte man es vielleicht aufsaugen. Im Salzwasser hingegen musste man den kleinen Schwamm benutzen, der vor dem Kinn befestigt war. Ein paar Tropfen Wasser im Helm musste man einfach hinnehmen. Wurde es wirklich zu viel, dann blieb einem nur die Möglichkeit aufzutauchen und es erneut zu versuchen. Natürlich war das zeitraubend und umständlich, von der Gefahr einmal ganz abgesehen, und so versuchten die Zwergentaucher dieses Risiko so gering wie möglich zu halten. Dafür gab es die „Tonne“, die Varnum bald benutzen würde.
„Warte, ich helfe dir.“ Oldrum packte den schweren, mit Metall gefassten, gläsernen Kugelhelm und hob ihn auf die Schultern des Freundes. „Moment, deine Zopfenden… Alles klar.“
Eine leichte Drehbewegung im Halsring, das metallische Schnappen der Scharniere und der Helm saß fest. Ab diesem Augenblick musste Varnum auf die Handreichungen des Freundes verzichten, denn nun war er auf die Luftzufuhr des Schlauches angewiesen.
Oldrum packte den Pumpenschwengel, begann ihn langsam auf und ab zu bewegen. Durch den dicken, noch aufgerollten Schlauch, drang ein Schwall abgestandener Luft. Es schmeckte nach Gummi, der in der Sonne aufgeheizt war. Dann wurde die Luft kühler und frischer.
Varnum zeigte dem Freund die Faust, zum Zeichen, dass alles funktioniere und ging an die Tonne.
Neben ihm traten noch fünf andere Zwerge an ebensolche Behälter, schritten die wenigen Stufen der Leitern hinauf und ließen sich langsam in die engen und hohen Fässer hinein gleiten. Das Wasser schlug über ihren Köpfen zusammen. Dunkles, gefärbtes Wasser, das ihnen sofort die Sicht nahm. Schon mancher Anfänger, der zu seinem ersten Tauchgang angetreten war, scheiterte an dieser Prüfung. Die Dichtigkeit der Helme hätte man auch im Meer prüfen können, nicht jedoch die Eignung zur Arbeit in ewiger Dunkelheit. Einige Zwerge hielten die Enge und Dunkelheit nicht aus und tauchten dann aus der „Tonne“ auf, rissen sich panisch den Helm vom Kopf. Nein, die Arbeit unter Wasser war nicht jeden Zwerges Sache.
Der Helm schien dicht zu sein, aber Varnum hatte inzwischen Erfahrung genug, dass sich das letztlich erst in größerer Tiefe herausstellen würde. Sobald der Wasserdruck stieg, würden die Dichtungen und Anschlüsse erheblich belastet werden. Varnum drehte sich in der Tonne, kam nahezu zeitgleich mit den anderen Schürfern ans Tageslicht zurück. Erneut zeigte er Oldrum die Faust und trat dann, endlich, an den Rand der Plattform.
Die Stadt des Eldont´runod-Clans schwamm, durch ihre Treibanker fixiert, auf dem Südmeer. Das war ein Glück für die Zwerge, die an diesem Tag tauchen würden. Hier war das Wasser glasklar und an dieser Stelle befand sich der Meeresboden in kaum zwanzig Metern Tiefe. Sie würden einen kurzen Weg und gute Sicht bei der Arbeit haben. Zumindest solange, bis ihre Arbeit den Schlamm und die Sedimente des Bodens aufwirbelte.
Die Tauchplattformen mit den Luftpumpen befanden sich rings um die schwimmende Stadt. Sie waren an den äußersten Flößen befestigt und auf jeder dieser Plattformen bereiteten sich nun Schürfergruppen darauf vor, in die Tiefe zu sinken und ihre Arbeit aufzunehmen.
Varnum nickte seinem Freund nochmals zu und vergewisserte sich, dass der Luftschlauch lose gerollt war und frei bewegt werden konnte. Dann ein letzter Griff an den Werkzeuggurt, an dem Hammer und Meißel hingen. Alles war an seinem Platz und in Ordnung und Oldrum würde darauf achten, dass ihm die Luft nicht zu knapp wurde. Natürlich würde Oldrum bald abgelöst werden, denn das Pumpen war schwere Arbeit. Varnum wusste, dass sein Freund die Plattform aber nicht verlassen würde, bis er selbst wieder gesund an die Oberfläche gelangt war. Oldrum war allzeit bereit einzuspringen, wenn er Varnum in Gefahr wähnte. Nicht umsonst waren die meisten Pumper und Schürfer in tiefer Freundschaft verbunden.
Varnum spürte die Kälte des Wassers an den Füßen, als er sich langsam ins Meer gleiten ließ. Kalt, aber nicht zu kalt. Er fragte sich, wie es wohl die Clans im eisigen Nordmeer anstellten, unter Wasser zu arbeiten, ohne zu erfrieren. Mit einem leichten Ruck kam er endgültig frei, das Wasser schlug über ihm zusammen. Er genoss diesen Moment, der ihm die Schwere nahm, spürte die Metallgewichte an den Füßen, die ihn nach unten zogen. Sorgsam berechnet, damit es nicht zu schnell ging. Die Gewichte waren mit großen Schnallen versehen, damit man sie mit einem kurzen Griff lösen konnte.
Varnum konnte sich noch erinnern, wie man einst, als er noch ein kleiner Hüpfling des Clans gewesen war, seinen Vater aus den Fluten zog. Er war ertrunken, da sein Helm undicht gewesen war. Sein Vater hatte es nicht mehr geschafft, die Gewichte zu lösen und frei zu kommen. Sie hatten ihn auf dem Meeresboden festgehalten und so hatte der Tote auf makabre Weise auf dem Grund gestanden, bis man ihn entdeckte und ihn endlich nach oben brachte. Damals war Varnum zum Waisen geworden, denn seine Mutter war schon zuvor an