Gut Nass. Ulf Imwiehe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulf Imwiehe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738042719
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ja«, sagt Caruso und lutscht das nächste Stück Konfekt. »Erstmal finde ich es doch einigermaßen befremdlich, dass eine solche Maßnahme wie diese... Situationsanalyse?«

      Bürgermeister Marther, Tante Heidi und Holm-Rüdiger Andersen nicken um die Wette.

      »...diese Situationsanalyse so von heute auf morgen durchgeführt wird. Zumindest wirkt das auf mich so, da offensichtlich keiner hier im Bad vorher davon informiert wurde. Es sei denn natürlich Herr Klamm wusste Bescheid. Dann hat er allerdings sein Wissen nicht mit seinem Team geteilt, aber das nur am Rande.«

      »Nein, nein, nein, Herr Balthasar! Ich kann Ihnen versichern, dass wir, wie ich ja bereits erwähnte, das Ganze selbstverständlich schon länger planen. So was schüttelt man ja nicht mal eben aus dem Ärmel, also, so was Komplexes.«

      »Und Hans-Herrmann wusste auch noch nichts davon«, säbelt Tante Heidi brillenfaltend dazwischen.

      Caruso nimmt diese unfreiwillige Anfeuerung nur zu gern auf. Bürgermeister Marther knetet seinen Nasenrücken, die Augen verkniffenen schwarze Spalten in seinem bleichen, runden Gesicht. Natürlich wusste der alte Klamm nichts davon. So läuft die Kommunikation in der Gemeindeverwaltung Schweigen nun mal. Tatsachenorientiert, irreversibel und im vollsten Vertrauen auf die telepathischen Fähigkeiten derer die es betrifft oder, im günstigsten Fall, deren Fügsamkeit. Alles normal.

      »Gut, gut«, nickt Caruso mit Gönnermiene und wickelt ein weiteres Stück Konfekt aus. »Dann frage ich mich noch, unter welchen Vorzeichen diese Situationsanalyse überhaupt durchgeführt wird. Ich bin ja nur ein einfacher Knecht, aber ich stelle mir vor, dass so ein Projekt nicht nur unheimlich komplex und anspruchsvoll ist..«, Holm-Rüdiger Andersen legt geschmeichelt den Kopf schief. Caruso prostet ihm verspielt mit der Schokolade zu und kaut meditativ bevor er fortfährt: »...also nicht nur komplex ist, sondern auch noch einigermaßen kostspielig. Nichts für ungut, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Andersen, beziehungsweise sein Arbeitgeber, ehrenamtlich für die Gemeinde Schweigen tätig wird.«

      Das Team schnarcht ein kollektives verächtliches Grunzen. Bürgermeister Marther und Tante Heidi öffnen und schließen abwechselnd Münder und Augen sagen jedoch nichts. Holm-Rüdiger Andersen rückt ein wenig an den Tisch heran und sieht Caruso fasziniert forschend in Gesicht.

      »Und da frage ich mich wiederum, ohne dass ich jetzt die betreffende Summe kenne, geht mich ja auch nichts an, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass eine Unternehmensberatung ganz schön stattliche Sätze aufruft. Ich hatte da mal flüchtigen Einblick, damals in Berlin. Da hatten wir für ein paar Wochen zu, glaub ich, ganz ähnlichen Zwecken einen Unternehmensberater im Haus und der hat sich laut meinem Chef, Entschuldigung, den Arsch vergolden lassen.«

      Bürgermeister Marther fuchtelt ungeduldig durchs Gelächter.

      »Herr Balthasar, ich weiß ehrlich gesagt im Moment nicht, worauf sie eigentlich hinauswollen und was das alles überhaupt zur Sache tut.«

      »Och, ich frage mich einfach nur, wie die Gemeinde Schweigen die Kosten dieser... Beratung wieder einspielen will. Aber vor allem frage ich mich, inwiefern das Ergebnis, wie auch immer das aussehen mag, Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse hier im Forstbad haben wird. Oder vielmehr auf die Existenz des Bades an sich. Angesichts der Gerüchte, die in Schweigen so kursieren.«

      Das Gemurmel wird zur Brandung die Bürgermeister Marther um Ruhe bittend mit biblisch weiten Handkantenschlägen zu teilen versucht, wie Moses einst das Rote Meer oder wie die Geschichte ging.

      »Welche Gerüchte meinen Sie denn bitte, Herr Balthasar?« Der Kerbenrahmen um sein Kinn nimmt schärfere Konturen an.

      Mein Herz wird zu warmem Sirup, läuft mir in den Bauch, kriecht meine Kehle hinauf, pulst und pocht durch meinen ganzen Körper, in meinen Ohren, reißender Schrecken. Caruso sieht von einem zum nächsten, saugt die Luft aus dem Raum, schnauft sie in einem heißen Hieb zurück unter die Decke, wendet sich dann mir zu und drückt mir todernst ein faustgeschmolzenes Stück Konfekt in die Hand. Ich fühle mich gesegnet und auf irrational erregende Art verdammt. Das Forstbad kreischt und rauscht durchs Fenster.

      »Na ja, es ist so, dass ich aus, wie heißt das noch immer in der Presse? Aus gewöhnlich gut informierten Kreisen davon gehört habe, dass die Gemeinde vorhat, das Forstbad in naher Zukunft zu schließen. Wenn das stimmt, was soll dann eine solche Situationsanalyse? Oder sollte ich sagen, Insolvenzvorbereitung? Denn so sieht das Ganze für mich aus!«

      Der daraufhin auftosende Stimmensturm wirft Bürgermeister Marther und Tante Heidi in ihren Plätzen zurück. Ein wildes Kochen erfasst den Raum und schließt alle ein, versiegelt die Versammlung in Raserei, entkoppelt sie vom Außen. Vor dem Fenster gerinnt die Sonne, die Zeit. Sommergestalten waten durch zähe Sekunden. Die Buchen und Kiefern hinter dem Sprungbecken verharren in ihrem gezeitenhaften Wogen und rahmen die Silhouette eines Springers, der träge vom Fünfmeterturm sickert. Was, wenn die Welt um uns niederstürzte und nur wir in unserem stickigen, zu kleinen Personalraum übrig blieben wie eine Insel in gleichgültiger Leere? Wer würde zuerst wahnsinnig werden? Wer würde wen verschlingen? Ich ducke mich unter der um mich tobenden Hysterie und versuche, zu atmen.

      »Leute, liebe Leute, ich muss doch sehr bitten! Das ist doch lächerlich!« brüllt Bürgermeister Marther, springt von seinem Platz auf, wobei er fast Holm-Rüdiger Andersens iPad vom Tisch rührt und gestikuliert wie ein Jongleur unsichtbarer Motorsägen. Tante Heidi ist im Begriff, ihre Brille zu verschlingen. Diese Angewohnheit wird sie ganz sicher noch einmal ins Grab bringen. Caruso indes, dieser Raubritter im Dienste des Chaos, sieht mir tief in die Augen, tränkt mich erst mit Zweifeln, dann Zuversicht, dann elektrisch kribbelnder Stärke. Ich gönne mir den Luxus, mich ein bisschen zu verlieren, in ihm und dem, was er da gerade ausgelöst hat, suche nach einer Bedeutung und finde keine außer dem urplötzlichen Wissen, dass, egal wie gut wir einander zu kennen glauben, wir doch nur uns selbst im jeweils anderen suchen und so zwangsläufig enttäuscht werden müssen. Geliebt, ganz sicher, vor allem aber gemeinsam, gegenseitig verwundet und genesen, letztlich jedoch immer einander fremd, wie es der Fluch der Nähe ist, zwischen Menschen. Ganz zu schweigen von Bademeistern im selben Schwimmbad eingesetzt. Wie können wir je einander genügen wenn das, was wir als Ideal da draußen suchen lediglich als Vorstellung in uns selbst existiert und selbst das nur unvollkommen, verstümmelt, grotesk versehrt und irr? Was für ein Blödsinn!

      Ich sehne mich nach Maike. Sie könnte mir alles erklären.

      Walter schnürt vor Empörung den Brustkorb noch fester in die verschränkten Arme ein und bellt durch seinen Eisenbart, Anita zetert Zusammenhangloses über Gemeinderat und Eintrittspreise, Saskia knickt mir ihr Knie in die Schläfe, dass ich fast mein Stück Eiskonfekt fallen lasse. Furios wirft sie ihre bunt mit wuchernden Heckenrosen, Zigarre rauchenden Putten und flammenden Billardkugeln tätowierten Schenkel abwechselnd übereinander. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Marlies sich draußen im Kassenhäuschen fast den Hals verrenkt im Versuch, Details der Aufregung auszumachen. Irgendjemand in diesem Raum braucht dringend neue Badelatschen. Es stinkt mit einem Mal kreatürlich. Wahrscheinlich bin ich es selbst.

      Caruso aber ist ein stiller, fester Monolith im peitschenden Gemenge.

      Genauso Holm-Rüdiger Andersen. Nur schmaler, eleganter und merkantiler. Mehr beredte Stele als massiver Obelisk. Beide sehen sich an wie verlorene Brüder, Antipoden, voller skeptischen Respekts füreinander. Dann mich. Caruso wickelt ein Eiskonfekt aus und hält es vor sich her, als sei es ein Kleinod. Holm-Rüdiger Andersen macht sich lang und fischt ein Stück aus der Schale. Er betrachtet es gravitätisch. Ich bin nicht so für Schokolade, aber auch ich wickle mein Konfekt aus und wir alle drei, umwirbelt von Aufruhr, kauen schmelzend das süße, fette Lebensblut der Gemeinde Schweigen. Zucker tobt stochernd durch mein verkatertes Gehirn. Dann zerre ich meinen Schlüsselbund aus der Tasche und schlage damit einen so harsch rasselnden Rhythmus auf den Tisch, dass die Tassen klirren.

      »Freunde, hallo Freunde«, versuche ich mich souverän dirigentenhaft zu geben und zu meiner Verblüffung wenden sich tatsächlich alle Gesichter mir zu. Münder, Augen, gerade noch an der Luft herumzerrende Hände verharren. Ich erinnere mich an Tante Heidis Sermon über das, wie sie es nannte, Buch des Lebens