Die Verbindung wurde unterbrochen. Acht fragende Augen waren auf Heinrich gerichtet. Dieser schüttelte nur langsam den Kopf: „Ich war doch da drinnen.“
„Nun machen wir erst einmal mit Ihrer Aussage weiter.“ Entschied der Staatsanwalt. „Also, die Tür ging auf und dieser… – wie sagten Sie doch gleich… – dieser `Kanarien-Vogel´ kam herein.“ Heinrich fasste sich und nahm den Berichtsfaden wieder auf: Die Besprechung, Kofferübergabe, nachfolgend die Überquerung des Stadtplatzes, das Klappern des Koffers gegen ein Luxusauto. Er betonte, dass der winzige Kratzer kaum zu erkennen gewesen war: „…wenn er überhaupt von mir stammt…“ Schließlich die Bäckerei. Mitten in seiner Beschreibung, welch ein Allerwelts-Naschwerk ein „Auszogner“ letztlich sei, unterbrach sich der Zeuge selbst. Er meinte an diesem Tage irgendeine Dopplung gesehen, gehört, erlebt zu haben: „Aber ich weiß nicht was...“ „Weiter!“, trieb der Erste-HK an. „Sie aßen und tranken in der Bäckerei. – Und dann?“ Heinrich fuhr mit seiner Beschreibung fort. Als er, im Bericht, das Treffen mit seinem angeblich neuen Kollegen in Basel erreicht hatte, meldete sich wieder der Zeichenkünstler und bat ihn erneut um eine möglichst genaue Beschreibung der Person. Diese Interview-Pause nutzte der Staatsanwalt, um einen neuerlichen Anruf der Kleinstadt-Beamten entgegenzunehmen. Er sprach auch mit dem zwischenzeitlich eingetroffenen Facility-Manager. Die Südbeamten zeigten sich nur mäßig erstaunt, dass die Schlüssel des Immobilien-Betreuers nicht zum Türschloss der Räumlichkeiten passten. Eine Manipulation an der Verrieglung wurde als faktisch gegeben angenommen. Vor dem blockierten Zugang stehend, bestätigte der Immobilienmanager, aus dem Gedächtnis, Heinrichs Beschreibung der Inneneinrichtung und verwies auf eine geplante, teilmöblierte Vermietung. Abschließend bat der Staatsanwalt, bis die Spuren gesichert sein würden, um die vorläufige, amtliche Versiegelung des Zugangs. Auf den Protest des Verwalters ging er nicht ein, drückte mit kurzem Dank das Gespräch weg.
Über den Minilautsprecher hatten die anderen dem Wortwechsel folgen können. Heinrich starrte mit leerem Blick auf seine Tasse. Er goss ganz langsam den Rest Kaffee aus der Kanne in das Trinkgefäß und lehnte sich in seinem Stuhl zurück: „Die gehen aber ein verdammt hohes Unternehmensrisiko!“ Heinrich T. Köchmüller ließ die Beamten nicht eine Sekunde aus den Augen. Waren diese nun seine Verbündeten oder seine Gegner? Er konnte es nicht einschätzen. Es war ihm, in dieser ungewöhnlichen Situation, auch völlig einerlei. Er konnte sich, im Moment, nur auf sich selbst verlassen. Seine jetzt eingenommene Haltung und seine Mimik ließen jedoch eines klar erkennen: Er hatte in seinem bisherigen Berufsleben auch größere Konferenzen geleitet und in diesem Zusammenhang nicht unerhebliche Investitions- bzw. Unternehmens-Risiken bewertet. Er war plötzlich, nach außen hin, völlig ruhig und absolut konzentriert beim Thema, fixierte die Beamten, mit seinen eisblauen Augen, wie ein Gebhard seine Beute. Es entstand eine Atmosphäre spannungsgeladener Stille. Die Staatsdiener verstummten, waren ganz Ohr. Heinrich rührte demonstrativ langsam in seinem Kaffee. Seine Worte folgten diesem Takt: „Einen Vorstellungs-Termin vereinbaren. Natürlich kurzfristig. Einen passenden, leeren Laden finden und ohne jedes Aufsehen aufbrechen. Dann auf die Schnelle eine Minimal-Infrastruktur simulieren. Mitsamt Computer am Empfang und Getränken und so weiter. Dann die gefakte Besprechung durchführen.“ Er ließ den Löffel los, dieser klickte gegen die Gefäßwand. „Und das alles… – das alles unter der ständigen Gefahr, dass der Eigentümer oder Verwalter auftaucht???“ Deutlich vernehmbar atmete er tief durch. „Das ist sicher keine organisierte Kriminalität. Denn wenn die strategisch organisiert wären, dann müssten die weitestgehend geplante und vor allem im Voraus planbare Prozesse in ihren Coups durchziehen. - Nee, meine Herren… – das sind Spieler. Zocker, für die das Ergebnis - also: der Gewinn - in erster Linie Freude am Risiko und nur in zweiter Linie ein, wie auch immer, geartetes Zubrot bedeutet.“
Er blickte in die Runde. „Mir… – mir ist nämlich gerade eingefallen, wo die Dopplung war, das Déjà-vu sozusagen. Nun… – den Schrammen-Bentley vom Stadtplatz hab' ich nämlich, sehr wahrscheinlich, zweimal gesehen: Rostrot/Kupfer. Beim zweiten Mal wäre er, in Basel, beinahe dem wegfahrenden Leihwagen hinten drauf gekracht. Und Sie frage ich: Wie bedürftig ist man, wenn man eine solche Luxus-Karre als… – nun sagen wir mal: als Dienstwagen nutzt? Aber am wichtigsten ist doch jetzt folgendes: Wie viele kupferfarbene Wagen diesen Typs gibt es? War es Zufall? Zufällig zwei Gleichartige? Am gleichen Tag? Sie sind die Fachleute! Würde einer hochprofessionellen Bande so ein Fauxpas passieren? Sind die Autoschieber an der Front nicht – im Normalfall – ehr ganz arme Schlucker? Würde deren finanzieller Spielraum so ein Dienst-Fahrzeug hergeben? Oder ist eine Karre diesen Typs und dieser Farbe ebenfalls gestohlen gemeldet? Am gleichen Tag, in der gleichen Woche?“ Er spülte die lauwarme Brühe in der Tasse mit einem Schluck hinunter und ließ die freie, flache Hand mit einem lauten Knall auf die Tischplatte fallen. „So meine Herren. Die Beantwortung all dieser Fragen ist jetzt Ihr Job! Sie sind die Fachkräfte! Sie haben dazu die Möglichkeiten!“
Sprach's und packte ohne jede Reaktion abzuwarten, ungerührt und demonstrativ seine ausgebreiteten Unterlagen, zurück in die Ledertasche. Ihm gegenüber saßen vier verdutzte Beamte. Waren sie überrascht? Hatten sie ein derart initiatives Verhalten nicht erwartet, von dem fachfremden Laien? Heinrich war es einerlei. Er wollte nur noch fort, hinaus aus dem Büro-Mief.
Bis Köchmüller tatsächlich das Polizeigebäude verlassen konnte, vergingen noch weitere, bürokratische 45 Minuten. Seine Unterlagen konnte er, da als Beweismittel beschlagnahmt, gleich wieder auspacken. Ihm wurden immerhin Fotokopien derselben überlassen. In dieser Zeitspanne wurde auch die Erwartung bestätigt, dass die Telefonnummern, mittels derer er von den Gaunern kontaktiert wurde, allesamt nutzlose Nummern gestohlener Handys waren. Dieser Faden verlief also ins Leere. Ohne nähere Auskunft über das nun Folgende und seinen tatsächlichen Status, ob nun Opfer, entscheidender Zeuge oder gar in vermuteter Mittäterschaft, stand er nun auf der Straße – durfte jedoch seinen Wohnort nicht verlassen. Die offizielle Forderung war: „…bitte, bereithalten für weitere Fragen…“ Dass dem Wagen noch eine weitere Erwähnung zu Teil wurde, war den Medien ehr bekannt, als Heinrich oder jener offiziellen Stelle...
Zu seinem Erstaunen war es bereits nach 16 Uhr. Knapp vier Stunden war er also „befragt“ worden. Doch außerhalb des Gebäudes herrschte für ihn kein Aufatmen. Im Gegenteil. Er hatte vielmehr das Gefühl einen Kartoffelsack auf seinen Schultern zu tragen. Eine Folge seines abgesackten Adrenalin-Spiegels. Er fühlte sich total schlapp. Seine Gedanken kreisten weiter, waren seltsam in Watte gepackt. Vor allem war da dieses bedrückende Gefühl, zwischen Baum und Borke zu sitzen, das hieß, entweder als Krimineller oder als volltrotteliges Betrugsopfer dazustehen und auf jeden Fall einen Schaden von mindesten 50.000 Euro angerichtet zu haben. Aus gutem Grund lastete dieser Gedanke nun besonders auf ihm. Niemand von den Ermittlungsbeamten ging davon aus, dass der verschwundene Wagen je wieder auftauchen würde, als der Begriff Osteuropa genannt wurde. Im Nachhinein verwunderte ihn die Reaktion der Beamten, auf seine Feststellung, dass er möglicherweise ohne jeden Schutz durch eine Diebstahl-Versicherung dastehen könnte. Waren die Herren Amtsträger doch ohne jede merkliche Reaktion über diesen Einwurf hinweg gegangen. Das schwammige Ergebnis, „…Ermittlung in alle Richtungen…“, blieb für ihn niederschmetternd und verwirrend. Köchmüller verscheuchte diesen Gedanken, war mittlerweile an der nächstgelegenen Bushaltestelle angekommen; vergaß den Gedanken an dieses Detail, da einer der rollenden Werbeträger um die Ecke bog, zügig auf Heinrich zu rollte. Wenigstens das klappte „…an diesem verschissenen Tag“. Er stieg