Der Arbeiter-Napoleon setzte noch eins drauf: „Diese systematisch eingeimpfte und somit dauerhaft unterschwellige Angst, vor dem Absturz des Einzelnen, muß mit der automatischen Assoziation von den bedrohlichen Abgründen – links und rechts des vorgegebenen Pfades – mit der völligen wirtschaftlichen Unberechenbarkeit, dem Zusammenbruch unserer Gesamtstruktur verbunden werden. Ist das erstmal erreicht – schwer genug – dann sind unsere zwingend notwendigen Selektions-Reformen durch…-setz…-bar.“
„…Pfadabhängigkeit…“ und „…Selektion…“: Köchmüller traute seinen Ohren kaum. Diese Worte aus dem Munde eines Arbeitnehmervertreter-Bosses? So war seine Frage fast schon unwillkürlich: „Ja, aber was hat das mit der Privatrente zu tun?“
Die lakonische Antwort des Arbeitskaisers war für Heinrich T. Köchmüller nahezu ein Schlag in die Magengrube: „Strategische Abschöpfung und Verlagerung von überzähliger Kaufkraft. Unauffällige Lenkung von Finanzströmen und verdeckte Inflation zur Steuerung des Ressourcen-Verbrauchs - mehr nicht.“ Bereits in seinem engen Banker-Büro waren Köchmüllers Befürchtungen, zwar in diffuser Weise, aber doch grundsätzlich in eine ähnliche Richtung gegangen. Doch das hatte er nicht erwartet. In erschreckender Klarheit, wurden seine schlimmsten Alpträume bezüglich des wahren Fundaments des marktradikalen Neoliberalismus übertroffen: Es ging nicht nur um Abzocke!
„Der Lebensstandard“, bestätigte Mini-Maus seine Vorahnungen, „oder besser: der Güter- und Leistungsverbrauch, wird – aus vielerlei Gründen - in diesem Lande mengenmäßig kaum mehr gesteigert werden können - und dürfen. Also, was machen die Leute? Sie fraternisieren mit dem Feind, verschleudern die Finanzwaffe in falsch verstandener Nächstenliebe, zum Beispiel mit Fair-Trade-Produkten. Diese Organisation der Gutmenschen muss übrigens genau beobachtet, wenn notwendig, eines nicht allzu fernen Tages, durch adäquate Skandale, kalt gestellt werden.“
Köchmüller wollte den Argumenten nicht folgen. Ihm stand eine monolithische Bruderschaft gegenüber, die fest verwurzelt war, in einer geschlossenen, dystopischen Weltsicht: „Rette sich, wer kann!“ und bis dahin: “Jeder gegen jeden!“ Ihm klappte die Kinnlade herunter, angesichts dieser offenen Zurückweisung jeglicher effektiver Entwicklungshilfe, da es, wie es schien, in deren Augen, keinerlei, niemals und nirgendwo eine tatsächliche Entwicklung des Menschen gegeben hatte oder je geben würde... - Nur Plünderung, bis zum Knall.
Die Mini-Maus reckte ihren Kopf Richtung Napoleon und fuhr in kalter Reportage fort: „Unser Zweispitz sprach bereits von Strategie. Eine Strategie, damit die Regale hier, in diesem Lande, so lange noch irgend möglich, stets gefüllt sind und nicht in Burkina Faso.“
Köchmüller sah zum Minister und bemerkte erst jetzt, dass dieser mittlerweile an einen anderen Tisch gewechselt war. Die zwanzig Minuten umfassende, ministerielle Überprüfung der politischen Standpunkte des Ehemannes einer künftigen, führenden Landespolitikerin, dieser sinisteren Partei der Hoffnungslosen, war wohl endlich beendet. Die Kofferträger folgten ihrem Herrn nach und nach. Zum Schluss standen nur noch ein Panzerknacker und ein Napoleon an dem Tisch. Beide, der Ex-Banker-Arbeitnehmer einerseits und der monarchistische Arbeitervertreter andererseits, sie wurden an diesem Abend keine Freunde mehr. Im Gegenteil. Binnen weiterer fünf Minuten waren die konträren Meinungen über Menschenwürde, so weit zugespitzt, dass der Feldherr die, in diesem Umfeld, tödlichste aller Fragen stellte:
„Sagen Sie mal… - sind Sie eigentlich Kommunist???“
Köchmüller starrte, durch seine Augenbinde, abschätzig auf den fülligen Kaisertreuen hinab: „Nein! Diplom-Bankräuber, deshalb weiß ich ganz genau, wohin Ihre kurzsichtige Denke führt und...“
Ein lautstarker Tusch erfüllte den Raum. Endlich kam die Parteiveranstaltung zu ihrem Höhepunkt: Es begann die Ehrung besonders verdienter und eifriger Mitglieder. Auf der kleinen Musiker-Bühne, jenseits der Tanzfläche, standen Dümpelfeldt und der Landesvorsitzende. Der Partei-Chef sprach die üblichen wegweisenden Worte:
„… möchte ich den Blick nach vorne richten, auf das angebrochene Jahr und hoffe…“
„…das alle kranken Abschreibungskünstler, Anlagebetrüger und Steuerhinterzieher hier und in aller Welt einmal richtig arbeiten müssen!“, grölte Köchmüller mit merklich alkoholisierter Stimme dazwischen. Die Anwesenden starrten, in kurzer Betretenheit, auf den volltrunkenen Bankräuber mit der Nummer vor der Brust. Minuten später brandete besonders viel Beifall auf. Die Hoffungsträgerin der Hoffnungslosen – Elke Schonhoff-Köchmüller - wurde auf die Plattform gebeten. Während sie im Scheinwerferlicht lächelte, stand ein Bankräuber allein an seinem Stehtisch und versuchte mit den beiden verbliebenen Sektgläsern seinen Ekel vor dem frenetischen Publikum und deren Weltsicht herunterzuspülen. „Herr Ober, bitte zahlen! Ich möchte gehen!“, krakeelte er und begann zu kichern, „Ach nee, das kostet ja hier nix! Die Rechnung übernehmen die kleinen Käfig-Näherinnen in Ostasien!“
Ihm waren, in den vergangenen knapp zwei Stunden, gut eineinhalb Flaschen Sekt durch die Kehle gelaufen, ein Quantum, dass er bei Weitem nicht gewohnt war. So strebte er in „bewusst gerader Gangart“ zum Ausgang, zerrte seine Jacke vom Haken und ließ sich von der Security die Tür öffnen.
„Ah, Moment… – Äh… – Die Toilette?“
Der Schwarzgekleidete wies den zwingenden Umweg.
Endlich auf dem Vorplatz angekommen, fiel Köchmüllers Blick auf die nächtliche Szenerie. Ein gutes Duzend chromglänzender Gasfackeln erleuchtete das elegante Umfeld. Chauffeur-Limousinen der Prominenz und einige Taxen standen bereit. In ihm erwuchs eine diebische Freude: Während seiner Anwesenheit hatte niemand erkannt, dass sein Aufzug - speziell seine Augenmaske - nichts weniger darstellte, als eine Anspielung auf die Französische Revolution. Er steuerte, sichtlich um Balance bemüht, eines der elfenbeingelben Fahrzeuge an: „Bringen Sie mich bitte weg, von hier. – Schnell!!!“
„Aber nur, wenn Sie mir versprechen, weder meinen Auto-Safe zu knacken, noch den Wagen vollzukotzen.“
Köchmüller kämpfte mit seiner schweren Zunge: „Wird gemacht, Chef!“
„Ja, und wo genau soll's denn nun hingehen? Zu Onkel Dagoberts Geldspeicher...?“
K2 – Ein neuer Job muss her
Natürlich bedeutete Heinrich T. Köchmüllers krakeeliger Abgang vom Parteifest und seine inkompatible Sicht auf die Dinge der Welt mehr, als nur ein Stirnrunzeln der Parteioberen. Für seine Frau war ein gewisser Imageverlust festzustellen. Da war nichts mehr mit ihrer Feststellung: „Mein Mann interessiert sich nicht so viel für politische Projekte. Aber er steht voll hinter mir und dem Partei-Programm! Auch wenn er politisch etwas romantisiert.“ Sein dekuvrierendes Verhalten ließ eine sorgsam gepflegte Fassade bröckeln. Dieser Kratzer, an Elkes makelloser politischer Arbeit, war für sie mehr als ärgerlich. Und das ließ sie ihren schmählichen Gatten deutlich spüren. Von ihm würde sie sich die Perspektiven nicht verbauen lassen, nur weil er selber nicht in der Lage sei, „…mit dem Arsch hochzukommen.“ Der Streit eskalierte in den folgenden Wochen so weit, dass Heinrich, Mitte März, vorläufig in sein kleines Arbeitszimmer umzog.
Wenige Wochen später war Elke für vierzehn Tage nicht im Hause. Ihre Fraktion im Stadtrat genoss, wie erwartet, den Oster-Urlaub auf der englischsprachigen Mittelmeer-Insel. Anfang März war der „geschlossene Bereich“ der städtischen Kliniken - ein großes, eigenständiges, über hundertjähriges Anwesen, vor den Toren der Stadt - tatsächlich und insbesondere auch auf ihr intensives Betreiben hin, an einen Investor aus der internationalen Sozial-Industrie verkauft worden. Und nun war es an der Zeit, die wohlfeile Ernte dieser Bemühungen, im milden Klima, abzufeiern.
Ebenfalls, in diesen Tagen, änderte sich Heinrichs Situation. Mit den ersten Blättern an den Bäumen,