Zögernd leerte Köchmüller seines ebenfalls: „Ihre verbitterte Auffassung vom Durchschnittsbürger kann nicht die Basis für politisches Handeln sein.“ Wieder wurde ein Tablett mit gefüllten Sekttulpen vorbeigetragen. Köchmüller tauschte nun auch gegen ein Neues. „Ich bin nicht verbittert, nur Realist.“ korrigierte der Würdenträger. „Aber, Sie haben natürlich Recht. Zuerst geht's um die Verkaufe. Und dann, nachgelagert... - also die faktische Basis für politisches Handeln, ist natürlich eine andere. Schauen Sie sich um! Wer ist hier anwesend?“ „Tja, alles was Geld und Macht hat, in der Region, und ein bisschen Staffage, wie ich.“ „Ja und nein. Sie haben Recht, mit der Macht und dem Geld. Aber mit der Staffage liegen Sie falsch. Sie sind kein Füllelement, Herr Köchmüller. – Warum?“ Auf Dümpelfeldts Erklärung, in mittlerweile merklich angeheiterter Stimmlage, war Köchmüller nun wirklich gespannt. „Na, aus zwei Gründen. Sie sind Banker, wie mir Ihre Frau berichtet hat. Ich find' das mit der Panzerknacker-Verkleidung übrigens sehr passend. Sie kennen sich also mit der Wirtschaft aus und verteilen im urkapitalistischen Sinne Geld, ermöglichen Investitionen. Sie sind also, in Ihrem Berufsfeld ein hochqualifizierter Spezialist. Sie haben Familie, ein Haus, Hobbies, eventuell einen Hund. Und trotz dieser Belastungen versuchen Sie über den Tellerrand hinauszublicken. Sie, als Bürger, der sich außerhalb des politischen Schlachtfeldes aufhält, versuchen unser Berufsbild zu verstehen, es zumindest teilweise nachzuvollziehen. Sie stellen ohne falschen Respekt und ohne Umschweife, implizit, die richtigen Fragen. Sie bleiben zwar Laie in unserem Metier, aber Sie nutzen zumindest Ihre intellektuelle Leistungsfähigkeit, um wenigstens die richtigen Fragen zu stellen. Das ist mehr, als nur „Graue Maus“; Ihre dezidierten Fragen, nach der tatsächlichen Machtverteilung in der Demokratie. Und genau darauf kommt es an!“
Köchmüller stolperte über die Ministerworte: „Auf meine Fragen kommt's an?“
„Nein! Auf die Machtverteilung! Na, dass - auch in der Demokratie - die Macht stets in den richtigen Händen bleibt. Professionalität! Sonst läuft der Laden nicht rund. Professionalität! Und nicht nur Geldvermögen. Stellen Sie sich vor, einer unserer beliebten Show- oder Quiz-Master nutzt seine Popularität, glaubt, dass das Ablesen von Moderationskarten genügt oder schlaues Daher-Reden weil er die richtige Antwort-Möglichkeit kennt. Und dann geht er in die Politik, ohne zu wissen „Was!“ und „Wie!“. Oder, noch schlimmer, so ein erbshirniger New Yorker Immobilien-Heini kommt auf den Gedanken: `US-Präsident ist so was, wie 'ne bessere TV-Show´, und dann kandidiert der in vier oder acht Jahren – und gewinnt auch noch! Nicht auszudenken, was da passieren könnte...“
„Sie sprechen also von einer genau definierten Führungselite – so 'ne Art `Herrenrasse´, die den Laden schmeißen darf?“ „Das schmutzige Wort bestätige ich in keiner Weise, nicht mal ohne Mikrophon. Ihnen bleibt es natürlich überlassen, die langfristig-strategische Führung des Landes so zu nennen, wie Sie wollen. Aber so, wie Sie es ausdrücken, hört es sich nach organisierter Verschwörung an. Das ist es aber nicht. Wir Politiker sind Fachleute in… - wenn Sie so wollen: Wir sind Macht-Mechatroniker zum Wohle des Landes. Wir sprechen hier wertneutraler von Vernetzung und Systematisierung der relevanten Subsysteme. Und dieses interessenbasierte Netzwerk bildet die so genannte >Politische Klasse< oder auch >Führungs-Elite<. Diese Elite ist somit - wahrlich - kein monolithischer Block. Denn es gibt eben diese vielen Einzel- und Grüppcheninteressen. Und die wirkmächtigsten der Subsysteme sind systemrelevant. Die Forderungen der Leistungsträger versucht unsere Partei zu strukturieren und zu fördern, weil sie, am Ende, auch der Allgemeinheit wirtschaftlich nützlich sein können.“ „Natürlich ohne direkte Einbindung des `Urnenpöbels´.“, stichelte Köchmüller. Er tat es jedoch vergeblich, da der Minister den Einwurf wortwörtlich nahm: „Ja sicher, `ohne´!! Deshalb: `Repräsentative Demokratie´.“ „Und die Gewerkschaften? Die Betriebsräte? Bürgerinitiativen?“ „Sie sind tatsächlich ein wirtschafts-politischer Romantiker. Immer gleich das Fußvolk im Blick. Naja, ich wurde durch Ihre Frau gewarnt. Ist aber im Grunde normal. Die meisten Laien im politischen Raum sind Idealisten. Ich war's nie. Deshalb trag' ich auch Verantwortung. Und ich red' gern mal Tacheles, wenn nicht gerade ein Schreiberling in Hörweite ist. - Also: Wenn es keine Subsysteme gäbe, die sich `Gewerkschaften´ und `Betriebsräte´ nennten, dann müssten sie erfunden werden. Notfalls von der Kapitalseite, weil sie für uns und unser marktwirtschaftliches System relevant sind. – Innerhalb der zugewiesenen Grenzen und Aufgaben natürlich.“ Er klopfte seinem untersetzten Nachbarn zur Rechten, diesem Möchtegern-Napoleon, auf die Schulter. „Unter diesem Zweispitz steckt ein Gesamtbetriebsrats-Vorsitzender. Einer von uns. Die höhergestellten Arbeitnehmervertreter gehören ins Spiel – auf deren Seite, in unserem Spiel! Lass dir 'n Dutzend Entlassungen vom Betriebsrat unterschreiben und sie sind weitestgehend gerichtsfest. Sie kennen das doch: Erst kommt die Jubel-Meldung über Synergie-Effekte bei einer Firmen-Fusion. Dann kommt der Jubel über so genannte `Job-Garantien´. Bezeichnenderweise fragt keiner, in der Öffentlichkeit, wie man Synergie und Job-Erhalt unter einen Hut bringen will! In einer zünftigen Diktatur könnte man den Betroffenen direkt reinen Wein einschenken und notfalls Knüppel drauf. Aber hier lässt man eben zwei, drei Jahre ins Land ziehen – genug Zeit dass jeder Depp selber merkt, was auf dem Spielplan steht – und dann lässt man die Wahrheit aus dem Versteck. Diese Zeitverzögerung ist die wahre Stärke der Demokratie. Ohne Schlagzeilen, ohne dass einer muckt, ohne Gummiknüppel im Hintergrund kommen dann die Anweisungen im Nachrichtenformat über den Ticker: >Aus Kostengründen und zur Sicherung der anderen Standorte werden beim `Unternehmen X´ 2.000 bis 3.000 Stellen abgebaut. Mit dem Betriebsrat wurde vereinbart, dass es zu keinen `betriebsbedingten Entlassungen´ kommt.< Das kennen Sie doch. Auch, dass der Abbau durch >natürliche Fluktuation in der Belegschaft<´ erreicht werden soll, ist nicht neu, aber für die Öffentlichkeit beruhigend. Und Dergleichen wird kaum noch wahrgenommen, weil man es ja immer wieder in den Medien hört oder liest. Was glauben Sie, wie hoch die tatsächliche Bereitschaft der direkt Betroffenen, der Überflüssigen ist, freiwillig in die eigene – aber systemnotwendige - Existenzvernichtung zu gehen?“ Der Minister starrte geierartig auf den Normalsterblichen herab: „Früher nannte man sowas >Heldentod<, aber den haben die Weicheier ja abgeschafft... – Also, wie viele Freiwillige findet man heute, die zum Wohle des Unternehmens ins offene Meer springen?“
“Nahe Null...“
„Genau. Und dafür hat man den `Betriebsrat´, den `Aufhebungsvertrag´ und die `Abmahnung´ erfunden. Dadurch ist das Gesundschrumpfen des Lohnkostenblocks in klar definierte, rechtsstaatliche Bahnen gelenkt.“
Der