„Aus der Trauer unumwunden neue Hoffnung sprießen wird, nur der wahren Sehnsucht folgend zur Bestimmung hingeführt“, sagte sie mit fester Stimme. Beim Klang der Worte hatten sich, einem diffusen Muster folgend, alle Blüten geöffnet und zeigten sich nun in ihrer ganzen Pracht. Als strahlten sie ein warmes Licht aus, umgab den Altar ein schimmernder Schein. Er spiegelte sich in Maras glänzenden Augen, als sie neben Ylvie trat und ihre zitternde Hand auf die unbedeckte Brust ihres Vaters legte.
Sirina war klar, dass Mara die schwerste Bürde zu tragen hatte. Doch sie kannte ihre Schwester und wusste, dass sie es schaffen würde. Ohne weiter zu zögern, begann Mara zu sprechen. Ihre Stimme trug die Worte bis in die letzten Winkel der Halle.
„Steter Tropfen höhlt den Stein und die Luft, sie flamme lodernd, mag entspringen hell und rein, gar der Menschen Inne fordernd.“
Während sie sprach, begann der Körper unter ihrer Hand zu glühen. Es breitete sich rasch aus, erfasste seinen ganzen Leib und die Blumenranken, die ihn umgaben. Die Glut verzehrte alles und hinterließ bloß graue Asche, die langsam in sich zusammensank. Bevor die Konturen ihres Vaters vollends verblassen konnten, wurden sie von einem Windstoß erfasst. Im Bruchteil einer Sekunde erhob sich ein gewaltiger Sturm um den Tempel, peitschte Wind und Regen auf den Altar. Über das Tosen und Heulen hinweg schrie Sirina die letzten Worte und die Macht, die sie damit entfesselte, dröhnte von den Wänden der Halle wider.
„Einst der Erben aller Gaben in den Schoß zurückgefunden, brenne, fließe, ströme, wachse, tat die Liebe Kraft entbunden.“
Kaum hatte sie den Mund wieder geschlossen, war der Spuk vorbei. Wind und Regen hatten die Asche ihres Vaters mit sich gerissen. Nur wenige Tropfen auf der steinernen Bahre und den Bodenfliesen zeugten noch davon. Auch der Sturm vor den Mauern des Tempels war vorüber.
Er war nun dort draußen. Die Prophezeiung ward gesprochen.
Kapitel 1
Daria stützte ihren Kopf auf die Hände und starrte durch das winzige Fenster hinaus auf die Landschaft. Von hier aus konnte sie das Bürogebäude, in dem Alarik arbeitete, … gearbeitet hatte, verbesserte sie sich in Gedanken, nicht sehen.
Es musste irgendwo rechts von ihr auf dem hügeligen Bergausläufer liegen. Der Bergkamm auf der anderen Seite des massiven Staudamms hingegen war steil, klüftig und von dicht stehenden Bäumen überzogen. Unter ihr zog sich ein schmales, glänzendes Wasserband durch das dunkle, von vereinzelten Bäumchen und Büschen bewachsene Flussbett.
Das Kraftwerk mit dem Generatorenkomplex war modern gestaltet, wirkte kalt und abweisend. Obwohl bereits der Morgen dämmerte, wurde es durch unzählige Strahler beleuchtet.
Wie ein Hochsicherheitsgefängnis, dachte Daria bitter. Auch wenn sie froh war, in Sicherheit zu sein, verstärkte sich bei diesem Anblick das beklemmende Gefühl in ihr, eingesperrt zu sein.
Die Geschehnisse der letzten Stunden waren gleichsam schrecklich und unglaublich gewesen. Der grausame Mord an Alarik. Maria, die Vincent in ihrer Gewalt hatte und ihn und Daria, ohne mit der Wimper zu zucken, umgebracht hätte, wäre Raffael ihnen nicht zu Hilfe gekommen. Wie er sich jetzt fühlen musste, konnte Daria nicht im Mindesten erahnen. Dann das Auftauchen ihrer Mutter und Liams unfassbare Nachricht. Das … es war der Grund, warum sie nun hier waren.
Sophia hatte sich in Windeseile von dem Schock der Situation erholt und Hunderte Hebel in Bewegung gesetzt. Sie waren nur Minuten später von einem dunklen Wagen abgeholt und über einen versteckten Zugang ins Innere der Staumauer gebracht worden.
Wie sich herausgestellt hatte, befand sich darin ein geheimer Bunker der Garde. Wer diese Garde genau war, wollte ihr bisher keiner so richtig erklären. Es hieß nur, dass es von höchster Wichtigkeit war, sie und alle, die mit ihr zu tun hatten, in Sicherheit zu bringen. So waren sie auch alle mit Daria hier untergebracht worden. Raffael, Liam, ihre Eltern, Sophia, Silvia und Vincent. Auch Alariks Leichnam hatte man hergebracht, ebenso die versteinerten Überreste von Maria. Soweit Daria wusste, würden auch ihre Freunde und wer weiß noch mit ihr hier untergebracht werden.
Jedenfalls waren, seit sie ihre Stellung an der versteckten Aussichtsluke eingenommen hatte, immer wieder Fahrzeuge über die sanften Hügel hinaufgerollt. Dunkle Limousinen, Transporter und sogar ein richtig großer Sattelschlepper waren dabei gewesen. Wen oder was sie herangeschafft hatten, ehe sie wieder davongebraust waren, konnte Daria nicht sagen. Erst vor wenigen Minuten, als die Sonne über dem Staudamm aufgegangen war, hatte das Kommen und Gehen allmählich aufgehört.
Nun lag das Tal friedlich und still im Morgenlicht, einzig erfüllt vom leisen Plätschern des Wassers und dem sanften Summen des Generators.
Daria starrte weiter aus dem Fenster, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Sie fühlte sich wie betäubt. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen oder sich ernsthaft mit der Situation auseinanderzusetzen. Wäre da nicht das angenehm warme Gefühl in ihrem Unterleib, würde sie sogar Liams Worte in Zweifel ziehen, einfach weil es ihr zu absurd erschien. Sie und Mutter? Die Wiederkehr des Elementaren? Unwillkürlich schüttelte sie bei dieser Vorstellung den Kopf.
Es war so unwirklich. Ebenso wie die Tatsache, dass sich irgendwo in diesen Gemäuern ihre Mutter befand. Ein Teil von Daria war furchtbar aufgeregt und konnte kaum glauben, dass ihre Mutter nun endlich, nach so vielen Jahren, wieder an ihrer Seite sein würde. Ein anderer Teil machte sich Sorgen, wie es ihrem Vater dabei gehen mochte. Und vor allem hatte sie Angst, dass Sophia und die Anhänger der Garde ihrer Mutter nicht glauben würden. Was würden sie wohl mit ihr anstellen?
Angespannt umklammerte sie die kalte Betonkante an der Aussichtsluke. Beim Gedanken an die Zukunft und die Bedrohung durch die Auserwählten wurde ihr abwechselnd heiß und kalt.
Hinter Daria öffnete sich die Tür und Ben kam gefolgt von Liam und einem hochgewachsenen Paar herein. Unverkennbar Bens Eltern. Die Frau war nur unwesentlich kleiner als ihr Mann und trug ihr helles, glattes Haar zu einem strengen Zopf gebunden. Sie sah ernst, aber freundlich aus. Der Mann war eine ältere Ausgabe von Ben. Groß, breit, muskulös, mit kurzem Haar und wachsamen Augen.
„Daria, ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer: Ich bin so unglaublich froh, dass es euch gut geht!“, sagte Ben mit rauer Stimme und nahm sie kurz in seine Arme.
Bens Vater räusperte sich, was Ben dazu veranlasste, sich gerade hinzustellen und seine Aufmerksamkeit auf ihn zu richten.
„Daria, mein Name ist Philipp und das ist meine Frau Margerite. Wir sind Mitglieder der Garde und hier, um unsere heilige Pflicht zu erfüllen. Euer Schutz ist unsere oberste Priorität“, verlautbarte Bens Vater förmlich und deutete eine steife Verbeugung an.
Bens Mutter begnügte sich damit, kurz Darias Hand zu drücken, bevor beide sich entschuldigten und den Raum verließen.
Daria sah perplex Ben an. Dieser wirkte ebenso verwirrt wie sie. Er hob abwehrend die Hände.
„Ich weiß, es ist mehr als gruselig. Ich erkenne die beiden nicht wieder. Gestern noch hat meine Mutter Marmelade eingekocht und mein Vater das Gartenhaus neu gestrichen, und heute stellt sich heraus, dass sie Mitglieder irgendeiner uralten Geheimorganisation sind. Ich dachte, ich kenne meine Eltern, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Als Sophia vorhin bei uns angerufen hat, haben sie so eine abartige Actionfilm-Flucht-Nummer abgezogen. Ich wusste gar nicht, wie mir geschieht, da hatten sie mich auch schon aus dem Bett gezerrt, mir einen Rucksack in die Hände gedrückt und in wenigen Worten erklärt, dass die Prophezeiung sich nun endlich erfülle und wir unseren Dienst im Namen dieser Garde anzutreten hätten. Ganz schön verrückt das Ganze“, murmelte er und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Als wir hier angekommen sind, hat Liam mir erzählt, dass du und Vincent von Maria angegriffen wurdet. Was ist da bloß passiert? Ich meine, warum hat sie das getan? Und Raffael hat euch geholfen? Hat er wirklich seine eigene Schwester umgebracht? Ich fasse das alles gerade nicht.“ Ben stockte und rieb sich die breite Stirn. Durchdringend musterte er Daria.
Sie konnte nichts