St. Eduard habe ich nach längerer Suche unter den katholischen Kirchengemeinden im Neuköllner Rollbergviertel rund um die Altenbraker Straße, in der die Familie damals wohnte, als die Gemeinde ausfindig gemacht, in deren Büchern ihr Name steht. Auch der Tod der Großmutter im Jahr 1947 ist dort verzeichnet. Nur über das Ende von Frieda Rangeus geben die Bücher keine Auskunft. In der Bodestraße ansässig, die 1938 von den Nazis in Altenbraker Straße umbenannt wurde, gehörte die Großmutter mit ihren beiden jüngeren Töchtern zu dieser katholischen Gemeinde. Die Kirche, erst 1907 in der Kranoldstraße unweit der Hermannstraße gebaut, duckt sich im Schatten des größeren evangelischen Gotteshauses, wie es in Berlin üblich ist. Ihren Namen erhielt sie im Gedenken an Eduard Müller, einen Missionsvikar aus Schlesien, der in Berlin und Brandenburg viele katholische Gemeinden gegründet hat. Aus Schlesien kam auch die Großmutter mit ihrer katholischen Religionszugehörigkeit, und es kann durchaus sein, dass der späte Zeitpunkt der Gemeindegründung dazu beigetragen hat, dass man die zwei älteren Kinder hatte protestantisch taufen lassen.
Das Grabmal des Gründers ist auch heute noch neben der Kirche zu besichtigen, und unweit vom Gotteshaus gibt es einen Eduard-Müller-Platz.
Mein Vater erzählte, dass er, obwohl protestantisch getauft, als Heranwachsender den katholischen Jungmännerverein besuchen sollte. Aber er tat das nur unwillig, entlief der Kirche schnell, nachdem er als Achtzehnjähriger noch Soldat werden musste, gegen Ende des Weltkrieges, der später als der erste in die Geschichte einging. Aus dem Kriegseinsatz zurückgekehrt, war er dem mütterlichen Einfluss entwachsen, er schloss sich dem Arbeitersportverein Fichte an, ging dort turnen und wandern, später gehörte er zur kommunistischen Arbeiterbewegung. Die Tatsache, dass die Kirchen die Waffen gesegnet hatten für den Krieg, erzeugte in ihm ein lebenslanges Misstrauen gegen kirchliche Institutionen, religiöse Bindungen und Heilsversprechen, die aufs Jenseits gerichtet waren Er trat aus der Kirche aus und bekannte sich als Atheist.
Friedchen wird seit Ostern 1925 oder 1926 in die Volksschule gegangen sein, rechne ich mir aus, in der sie wahrscheinlich bis 1934 geblieben sein müsste. Denn den Besuch einer katholischen Schule konnte die Mutter nicht durchsetzen, das ist überliefert in der Familie. Dann wird das Mädchen die Schule verlassen haben, denn auch meinem Bruder ist nichts bekannt darüber, dass sie eine bessere Schulbildung bekam, sie ging höchstwahrscheinlich nicht länger als 8 Jahre lang zur Schule, wie ihre drei Geschwister auch, und lernte dann ihren Beruf. Die Zeit ihrer jugendlichen Sozialisation fällt demnach in die Jahre der Befestigung der nationalsozialistischen Herrschaft. Man kann wohl davon ausgehen, dass sie beim „Bund Deutscher Mädchen“ gewesen sein muss, denn es ist nicht anzunehmen, dass sie sich während ihrer Lehrzeit dort völlig ausschließen konnte. Denn schon ab 1936 gab es die Mitgliedspflicht bei der Hitlerjugend und im BDM. Ihrem Alter entsprechend, hätte sie nicht mehr zu den „Jungmädeln“, sondern bereits in den „Bund Deutscher Mädchen“ gehört, dem die 14-18jährigen eingegliedert waren. Aber in dieser Zeit waren noch Ausnahmen möglich, mancher entzog sich dieser Mitgliedschaft. Erst ab März 1939 konnte sich kaum ein junger Mensch zwischen 10 und 18 Jahren dem Zwang zur Mitgliedschaft ohne Folgen entziehen. Zu diesem Zeitpunkt war meine Tante allerdings schon älter als 18 Jahre und hätte nun dem Bund „Glaube und Schönheit“ angehören müssen, der die 17-21jährigen jungen Frauen organisierte. Aber ich nehme an, dass die Mutter versucht hat, das heranwachsende Mädchen zur Teilnahme bei der katholischen Jugend zu ermuntern, die Kirchengemeinde St. Eduard oder auch St. Clara liegen in erreichbarer Nähe, und an deren kirchlichem Leben wird sie, bis zu ihrem Erwachsenwerden, gewiss teilgenommen haben. Aber ob sich die Mutter nach der Pubertät bei der Jüngsten in dieser Hinsicht noch durchsetzen konnte, nachdem sie bei ihren anderen Kindern so wenig hatte ausrichten können, bleibt offen. Im Übrigen wird sie der Tochter bei dem, was sie tat oder unterließ, wenig haben raten können, denn die jüngste Tochter war sehr eigenwillig, ging ihre Wege, das bestätigten alle, die sie kannten. Der Vater verspürte in Hinblick auf die Erziehung seiner Kinder wenig Neigung sich durchzusetzen, er legte keinen Nachdruck auf das, was er für nötig hielt. Er war ein stiller in sich gekehrter Mann, der gewissenhaft seiner Klempnerarbeit in den Tempelhofer Gaswerken nachkam und die Entscheidungen in Sachen Familie mit den Jahren immer mehr ganz der Frau überließ. Er wollte vor allem seine Ruhe, und wenn man sie ihm ließ, schien er zufrieden. Friedchen wird weitgehend ihren eigenen Interessen gefolgt sein. Vielleicht gelang es ihr irgendwie, sich der geforderten Mitgliedschaft zu entziehen. Aber wenn sie Interesse hatte, wird sie beim BDM mitgetan haben, allerdings denke ich, dass solches Interesse höchstens ganz kurzzeitig bestanden haben kann. Es dürfte sich schon einfach deshalb in Grenzen gehalten haben, weil sie für sportliche Aktivitäten, für militärische Disziplin, für Dienste und Gruppendisziplin nur geringe Neigung verspürte. Sie war ja so verwöhnt, war später der übereinstimmende Kommentar aller Familienangehörigen, die sie kannten. Sie putzte und verkleidete sich gern, schon als Halbwüchsige. Der Beruf, den sie lernte, war ihr ganz und gar auf den Leib geschnitten. Sie interessierte sich für Mode, und die wurde zu dieser Zeit noch immer in Berlin gemacht. Zwischen 1934 und 1937, in diese Jahre müssen ihre Lehrjahre gefallen sein, begannen die Nazis allerdings schon, die Tätigkeit der jüdischen Konfektionsfirmen einzuschränken oder sie ganz zu liquidieren. Die Besitzer mussten zu Spottpreisen ihre Geschäfte und Firmen verkaufen, um die Reise ins Ausland bezahlen zu können. Ob und wie sie das wohl erlebt hat? Dass sie bei einer jüdischen Firma ihren Beruf gelernt hat, ist wenig wahrscheinlich, weil den jüdischen Firmen solches Recht schon 1934 genommen worden war. Und es bleibt im Übrigen offen, ob sie nach der Ausbildung eine Beschäftigung bekommen hat oder aber ob sie zunächst arbeitslos blieb. Ich möchte mir vorstellen, dass sie einige Jahre lang Hüte entworfen und gefertigt hat. Auch die Mutter trug gerne Hüte, Kapotthüte, wie die überlieferten Bilder verraten, ob die Tochter sie für die Mutter hergestellt hat? Auf jeden Fall hat sie ihren Beruf wahrscheinlich nicht lange ausüben können. Denn schon am 26. Juni 1935 wurde die Arbeitspflicht im Reichsarbeitsdienst für Männer und Frauen zum Gesetz erhoben. Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren konnten nunmehr für ein halbes Jahr wie Rekruten eingezogen und zu verschiedenen Arbeiten eingesetzt werden. Aber da war sie erst 16 Jahre alt und unterlag wahrscheinlich noch nicht den speziellen Bestimmungen des Deutschen Frauenarbeitsdienstes, der vorsah, dass Frauen zu Arbeiten in Hauswirtschaften eingesetzt werden konnten. Diese Frauen mussten das Emblem des Deutschen Frauenarbeitsdienstes tragen, während die Männer auf dem Arm das quadratische Emblem mit dem Spaten trugen, der von zwei Ähren flankiert war. Es kann sein, dass es sie mit ihren neunzehn Jahren traf, als diese Verordnung am 22. Juni 1938 perfektioniert wurde, um in Vorbereitung auf den Krieg die totale Verfügungsgewalt des Staates über das Arbeitskräftereservoir ausdehnen und nunmehr jeden im arbeitsfähigen Alter heranziehen zu können. Wie lange sie ihren Beruf hat ausüben können, ist mir nicht bekannt, aber ich könnte mir vorstellen, dass ihr die Mutter mit Hilfe eines Arztes Hilfestellungen gab, um der drohenden Arbeitsdienstpflicht zu entgehen. Den Bruder, meinen Vater