„Wenn wir jetzt in die Kathedrale hinein gehen, werden wir sofort die stützenden Metallpfeiler, die überall im Mittelschiff der Kathedrale aufgestellt worden sind, sehen. Die Innenstadt von Mexiko-Stadt, die von den Einheimischen nur D.F. Districto Federal genannt wird, war von den Spaniern auf trockengelegtem Sumpfgebiet erbaut worden. Diese Tatsache rächte sich nun, indem schwere große Gebäude wie die Kathedrale einseitig in den weichen Unterboden absackten.“ Lissi beendete ihr vorlesen und alle drei betraten die Kathedrale. Obwohl Cassandra nicht religiös war, so war sie doch erneut, genauso wie ihre Eltern, von der Schönheit, der hervorragenden künstlerischen Ausgestaltung und der enormen Größe der Kathedrale beeindruckt.
Die helle Sonne blendete sie als sie wieder auf den Bürgersteig vor der Kathedrale traten. Cassandra war froh in diesem Moment ihre Sonnenbrille zur Hand zu haben. Zu Fuß schlenderten sie nun weiter die Avenida de 5 de Mayo entlang in Richtung Palacio de Bellas Artes. Der Palacio de Bellas Artes, der Palast der schönen Künste, war das Opernhaus der Stadt. Cassandra konnte sich an einen wunderbaren Abend in diesem Gebäude erinnern, an dem sie gemeinsam mit Michael eine Aufführung gesehen hatte. Das Opernhaus konnte sich in Punkto architektonischer Schönheit von innen und außen mit den großen Opernhäusern in Wien und Paris messen.
Gleich neben dem Gebäude begann der Alameda Park. Ein, im Vergleich zum Chapultepec Park, kleiner Park, der es nur mit Mühe schaffte, die Geräusche der Großstadt zu filtern und seinen Besuchern ein bißchen Ruhe zu gönnen. Hier im Park kaufte Cassandra für ihre Eltern und sich jeweils eine Cola. Dann setzten sie sich alle auf eine, der vielen Holzbänke und tranken genüsslich, das kühle koffeinhaltige Getränk.
Nach dieser Stärkung verließen sie den Park und überquerten die breite Avenida de 5 de Mayo, um zum Torre Latinoamericana, dem Lateinamerikanischen Turm, zu gelangen. Sie fuhren zur Aussichtplattform hinauf und genossen den Rundum-Panoramablick auf die Weltstadt. Auch wenn Cassandra schon viele Male hier oben gewesen war, war sie doch jedes Mal wieder von diesem Blick überwältigt. Dieser Blick und diese Stadt zogen sie in ihren Bann, Gegenwehr war sinnlos.
Verträumt blickte Cassandra durch die dicken Scheiben der Aussichtsplattform des Turmes. Sie liebte diese Stadt und dieses Land mit all seinen Menschen und Eigenheiten. Noch nie war ihr das so bewusst gewesen wie in diesem Moment. Dann holte sie ihre Mutter in die Gegenwart zurück, als sie laut staunte, „eindrucksvoll dieses Häusermeer und der weite Blick bis zum Horizont“. „Siehst Du wie klein die Leute und die Autos auf der Straße sind? Es sieht alles aus wie Spielzeug“, meinte ihr Vater. „Ich verstehe wieso Du diese Stadt so magst. Sie ist so vielseitig, so beeindruckend und überwältigend“, ließ sich Lissi vernehmen.
Robert nickte zustimmend und sichtlich beeindruckt von dem was er sah. „Mir fehlen die Worte, Cassandra, ich bin überwältigt von diesem Blick“, sagte ihr Vater leise in ihre Richtung. Sie sahen die Türme der Kathedrale und die kupferfarben schimmernde Kuppel des Monumento de la Revolución, des Monuments der mexikanischen Revolution. Darüber hinaus war das moderne Geschäftsviertel mit den Banken und der Börse von Mexico-Stadt gut zu erkennen. Bis zum Horizont sahen sie nur Gebäude und Straßen und natürlich die Berge, die die Stadt seit jeher an ihrer Ausdehnung hinderten und den Piloten beim Anflug auf die Stadt viel Können und Konzentration abverlangten.
Cassandras Vater schaute auf die Uhr und drängte plötzlich zum Aufbruch. Der Fahrstuhl brachte sie schnell zum Erdgeschoß und in die Nähe des Ausganges des Turms. Von dort waren es nur wenige Schritte zur Metro. Es war kurz nach 16 Uhr nachmittags, aber die Metro bot noch Platz zum Sitzen.
Cassandra blieb die wenigen Stationen bis zum Hotel, in der Metro stehen, während ihre Eltern sich setzten. Sie dachte noch einmal an das, was sie soeben noch von dieser riesigen und beeindruckenden Stadt gesehen hatte. Sie war begeistert und sehr beeindruckt. Mexico-Stadt hatte sie wieder in ihren Bann gezogen. In ihren Gedanken war sie mit der Stadt fest verbunden.
Beinahe hätten Cassandra und ihre Eltern die richtige Haltestelle verpasst, doch zum Glück schaute Cassandra noch rechtzeitig auf die Haltestellenschilder. Sie stiegen aus und erreichten über mehrere Treppen wieder das Tageslicht. Zum Hotel waren es nur wenige Schritte.
Als sie in der Hotellobby ankamen, wartete Michael schon auf sie. Cassandra erblickte ihren Bruder und lief ihm entgegen. Sie umarmte ihn so stürmisch, dass er sich mit ihr in seinen Armen drehte. Auch Michael freute sich sehr seine kleine Schwester, wie er Cassandra gern liebevoll nannte, wieder zu sehen. Voller Freude berichtete Cassandra ihm, welche Sehenswürdigkeiten sie heute besucht hatten und wieviel Freude ihr der erneute Besuch in dieser Stadt gemacht hatte. Michael sah im Gesicht seiner Schwester, wie sehr sie der Aufenthalt in dieser Stadt bewegte. Sie trug genau wie er den Mexiko-Virus in sich. Seid sie beide die spanische Sprache beherrschten wie ihre Muttersprache, waren sie der Faszination dieses Landes erlegen.
Michael freute sich Cassandra, die nicht nur seine jüngere Schwester war, sondern auch eine Seelenverwandte, wieder bei sich zu haben. Er küsste sie auf eine Wange und umarmte sie lange. Ihre Eltern standen daneben und freuten sich, dass sich ihre Kinder trotz der langen Trennung immer noch so gut verstanden.
Nach der herzlichen Begrüßung durch Cassandra waren jetzt ihre Eltern dran. Lissi umarmte ihren Sohn zu erst. Tränen der Freude rannen dabei über ihr Gesicht. Sie war so froh und glücklich ihren Sohn gesund und munter vor sich zu sehen, dass ihre Gefühle mit ihr durchgingen. Michael wischte vorsichtig die Freudentränen seiner Mutter aus ihrem Gesicht und küsste sie auf beide Wangen. Dann schaute er sie an. Seine Mutter war noch immer schlank wie eh und je. Nur die Falten in ihrem Gesicht hatten sich vermehrt und sie hatte ein paar graue Haare mehr bekommen, was man aber bei ihren immer noch naturblonden Haaren kaum sah.
Vater Robert begrüßte seinen Sohn mit einem Handschlag und kräftigem Klopfen auf eine Schulter. Er sah ihn mit Stolz an und freute sich genauso wie seine Frau, seinen Sohn gesund und munter vor sich zu haben.
Gemeinsam trugen sie dann kurze Zeit später die Koffer in Michaels Wagen. Er hatte extra für den Besuch von Cassandra und seinen Eltern einen Kleinbus seines Arbeitgebers gemietet. Der Bus bot Platz für acht Personen und deren Gepäck. Alle stiegen ein und Michael steuerte den Bus langsam vom Parkplatz des Hotels auf die Hauptstraße. Geschickt schlängelte er sich mit dem Bus durch den dichter werdenden Feierabendverkehr der mexikanischen Hauptstadt bis er die Abfahrt Richtung Puebla erreichte.
Michael konzentrierte sich ganz auf den Straßenverkehr und trotzdem durchfloss ihn ein wohliges Glücksgefühl. Seine kleine Schwester, Cassandra, die fünf Jahre jünger war als er, war wieder bei ihm und auch seine Eltern hatten sich erfolgreich auf den weiten Weg zu ihm gemacht. Michael strahlte vor Freude und Vorfreude auf die drei Wochen die jetzt vor ihnen lagen.
Seine Freude konnte auch nicht durch einen zu forschen mexikanischen Autofahrer getrübt werden, der ihm dreist die Vorfahrt nahm. Michael kannte die Fahrweise mancher Mexikaner. Nach all der Zeit in diesem auch für ihn immer noch exotischen Land, hatte er sich daran gewöhnt und pochte schon lange nicht mehr auf deutsche Korrektheit.
Die Autofahrt von Mexico-Stadt nach Puebla dauerte länger als üblich, da sich der Stau der Großstadt weit in die Vororte ausgedehnt hatte. Mit den letzten Sonnenstrahlen erreichten sie Puebla und das Haus von Michael. Er hatte eine Art Reihenhaus mit Garten in einem guten Wohnviertel von Puebla gekauft und wohnte nun mit Maria, seiner mexikanischen Ehefrau und seinen beiden Söhnen Pedro und Rafael in eben diesem Haus. Das Haus hatte drei Schlafzimmer, eine Galerie und ein Bad im Obergeschoß sowie Küche, Duschbad, Arbeitszimmer und Wohn- und Esszimmer im Erdgeschoß. Der Garten hatte eine Terrasse und war groß genug, damit Michaels Söhne Fußball spielen konnten. Vor dem Haus befand sie ein Stellplatz für den Bus. Ein kleines Auto der gleichen Automarke wie der Bus, stand auf dem Rasen daneben. Vorsichtig parkte Michael den Bus auf dem Stellplatz.
Nachdem