Sandors Figurenspiel. Peter Maibach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Maibach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847615699
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Die Trauer um Grossvaters Tod würde mich nie verlassen. Sie wurde aber leiser, es fiel mir immer leichter, den Verlust anzunehmen und als Bestandteil meines Lebens anzusehen. Diese Erfahrung mit Ludmilla zu teilen, vertiefte unsere Beziehung, ja schien uns sogar wie ein Wink des Schicksals, unseren Weg gemeinsam fortzusetzen. Hans und mein Advokat kümmerten sich um den Papierkram. Ich reiste noch einige Male nach Sendingen, um Dokumente zu unterschreiben, verspürte aber nie Lust, nach Villerach hoch zu fahren. Bis zu den Sommerferien war alles unter Dach und Fach, und die Villacher hatten ihr Museum eröffnet. Für die Eröffnungsfeier liess ich mich vom Advokaten vertreten. Auch Hans nahm an der Feier nicht teil. Er hatte seine Meisterprüfung mit Auszeichnung bestanden. Jetzt packte er seine Siebensachen und bereitete sich vor, nach Bern umzuziehen. Nach den Ferien würde er eine Stelle in einem bekannten Restaurant antreten.

      Auch Ludmilla zog es nach Bern, allerdings aus anderen Gründen. Den Sommer wollten Ludmilla und ich gemeinsam verbringen. Wir wollten zusammen Probe wohnen, wie sie das bezeichnete. Auch wenn wir diese gemeinsame Zeit eher locker angingen und über unser Zusammenleben witzelten, waren wir beide wohl angespannter und unsicherer, als wir es uns eingestehen wollten.

      ***

      Die Semesterferien begannen, und auf einmal hatte ich massenhaft Zeit. Schon bald würde Ludmilla einziehen. Ich nutzte die Gelegenheit, meine Bude auszumisten. Beim Aufräumen stolperte ich einmal mehr über Grossvaters Koffer. Gute Gelegenheit, dachte ich und begann den Inhalt auf dem Küchentisch auszubreiten. Der Arkade lächelte mir zu. Abwägend hielt ich ihn in der Hand. Ich erinnerte mich an Xelorin, ich hörte wieder Grossvater erzählen, roch Holz und Lack, sah die Werkstatt im Nachmittagslicht, die Kirchenglocken schlugen vier Uhr. Ich stellte die Figur ins Pfannenregal, die Erinnerungen wichen zurück. Dann begann ich, Grossvaters Dokumente zu sichten. Ein schwarzes Notizbuch zog mich wie magnetisch an. Ich blätterte es oberflächlich durch, legte es weg und hielt es wenig später dennoch wieder in der Hand. Seitenweise Listen, in welchen Grossvater peinlich genau Buch über sein Holzlager führte. Woher das Holz stammte, wie gross, wie schwer, wann er es eingelagert hatte und was er damit zu tun beabsichtigte, alles war fein säuberlich aufgelistet. Erst beim gründlichen Durchblättern entdeckte ich das Dokumentenfach im hinteren Buchdeckel. Darin lag eine Notiz, die in Grossvaters sauberer, gerader Schrift abgefasst war.

       Kapitel 4

      Sandor, lieber Sandor

      Du hast es also gefunden. Gut. Ich habe Ordnung gemacht. Meine Zeit hier zerrinnt, und ihr Ende ist absehbar. Ich sage das ohne Bitterkeit. Wer ein Leben lang Holzengel geschnitzt hat, muss sich im Jenseits wie zu Hause fühlen. Mittlerweile müsstest du Ludmilla Parr persönlich kennen gelernt haben. Eine patente junge Frau. Ich vertraue ihr. Sonst rede mit Hans Sarbach, einer der wenigen vernünftigen Seelen im Dorfe Villerach.

      Erinnerst du dich noch an das Märchen von Xelorin, dem glücklosen Meisterschnitzer? Ich habe es dir erzählt, als du ein kleiner Junge warst, als wir zusammen in der Werkstatt Tee getrunken haben. Hast du den Arkaden wieder erkannt? Den guten Arkaden? Sind Märchen erfundene Geschichten? Oder sind es vergessene Wahrheiten? Oder werden sie einfach wahr, wenn jemand den Figuren Vertrauen schenkt?

      Vielleicht hat es wirklich einmal einen Xelorin gegeben, Sandor. Nicht im fernen Meldonien, sondern viel näher, als man vermutete. Wie auch immer, irgendwie fanden Xelorins Figuren den Weg nach Villerach. Das ist ja nicht weiter erstaunlich, sie zogen um, einfach von einem Holzschnitzer zum anderen. Keine Bange Sandor, sie liegen immer noch in ihren Kistchen aus Blei Eiche, solide verschlossen, sie werden erst wieder zum Leben erwachen können, wenn sie auf dem Wabenbrett aus Birlindenholz stehen und die ersten Züge gespielt sind.

      Ich habe Xelorins Spielregeln überarbeitet, sie in seinem Sinne der heutigen Zeit angepasst. Keine Partei soll gewinnen können, und somit sollten alle Sieger und Verlierer zu gleichen Teilen werden. Aber ich traue dem grimmigen Arkaden nicht. Er ist im Stande und findet eine Lücke im Regelwerk und reisst erneut die Macht an sich. Ich habe es nicht gewagt, die Figuren aufs Brett zu stellen.

      Vielmehr fand ich es sogar zu gefährlich, die Figuren so nahe beisammen zu lassen. Ich habe beschlossen, sie einzeln in alle Welt zu schicken. Sie sind in alle Winde zerstreut. Den Spieltisch aber hat Hans verbrannt, die Asche habe ich in den Wäldern um Villerach verstreut. Ich lasse dir das Märchen und die Pläne und die Skizzen zu den Figuren sowie meine anderen Zeichenhefte als Andenken. Alles ist nur ein Spiel. Eine einzige Figur habe ich behalten, den guten Arkaden. Er wird dich beschützen.

      Grossvater

      Xaver Lendel

      ***

      ***

      Ich las den Brief zweimal durch, kam aber zu keiner klaren Schlussfolgerung. Ich war gerührt ob der Botschaft aus der Kindheit, dann fragte ich mich, ob Grossvater wohl senil geworden war. Diesen Gedanken verwarf ich aber sofort wieder. Am annehmbarsten schien mir der Gedanke, dass er in seinen letzten Jahren einem Spiel Gestalt verliehen hatte, dessen Idee er schon lange mit sich herumgetragen hatte. Immer nur Engel geschnitzt? Der alte Herr konnte ganz schön schlitzohrig werden, wenn ihn eine Idee ritt. Da musste mehr dahinter stecken, da kannte ich Grossvater zu gut. Einverstanden, es war bloss ein Spiel, aber jetzt war ich am Zug.

      Zunächst ging es darum, den Papierberg nach Hinweisen durchzuarbeiten. So wie ich Grossvater einschätzte, hatte er sicher irgendwo einen Anknüpfungspunkt versteckt. Die Lagerlisten vielleicht? Dort wäre bestimmt jeder Eingang und Ausgang verzeichnet. Birlindenholz? Birne oder Linde? Oder etwas anderes? Wie gross müsste ein Block sein, damit man einen Arkaden daraus schnitzen könnte? Die Zeriden waren wahrscheinlich kleiner als die Arkaden. Eine unerwartete Lust, die Herausforderung anzunehmen, packte mich. Ich stapelte die Lehrbücher aus der Universitätsbibliothek in eine Ecke, sie konnten warten. Die Papierflut auf dem Küchentisch breitete ich auf dem Arbeitstisch aus, bald war er voll belegt. Ich legte weitere Blätter auf dem Fussboden aus und schritt wie ein Feldherr die Papierfront ab. Spielfreude, die Herausforderung ungelöster Rätsel, ich weiss nicht, was mich trieb. Jedenfalls konnte ich mich einer Aufgabe hingeben, die mich mit Grossvater verband und ein Stück vermisster Kindheit aus der Vergessenheit heraufholte.

      Gut, dass Ludmilla erst in ein paar Tagen in Bern eintreffen würde. Sie hatte einen Kunden im Visier, mit dem sie in Kontakt treten wollte. Ich war ein wenig verstimmt gewesen über den hinausgezögerten Beginn unserer ersten gemeinsamen Sommerferien. Jetzt aber fand ich es angenehm, alleine in Grossvaters Nachlass zu schwelgen. Vielleicht war es auch bloss eine Sackgasse. Und bloss um in eine Sackgasse zu rennen, dazu wünschte ich mir nicht Ludmilla als Zaungast.

      In diesem Zusammenhang machte ich eine verblüffende Entdeckung. Ludmilla muss Grossvater mehrmals Modell gestanden haben. Ein halbes Skizzenheft war gefüllt mit Porträts und zahlreichen Aktstudien. Von wegen bloss Engel schnitzen! Das muss mir ja eine fröhliche Gesellschaft gewesen sein, dort oben in Villerach. Ich studierte die Zeichnungen eingehend. Ich verwob meine Bewunderung für Grossvaters sichere Hand mit meinen eigenen Erinnerungen an Ludmillas nackten Körper, knüpfte ein Band zu den Skizzen. Jetzt wäre ich gerne mit Ludmilla zusammen gewesen. Ich legte das Heft nachdenklich beiseite und beschloss, das Geheimnis vorderhand für mich zu behalten.

      ***

      Der Auktionator stellte endlich den Kartentisch vor. «Katalog Nummer 24: ein sehr schön gearbeiteter Kartentisch in einwandfreiem Zustand vom bekannten Holzschnitzer Xaver Lendel.» Einige erste Gebote? «30‘000.–, wer bietet mehr?» Einige wenige Bieter erhöhten nur schleppend, ein Museum war dabei. Ich beobachtete verstohlen Ludmilla. Sie bot nicht mit. Wie versteinert sass sie da, als ob sie das Ganze nichts anginge. Aber ich kannte sie zu gut. Die Katze lag sprungbereit auf der Lauer. Bei 37‘000.– blieben die Angebote stehen. Jetzt endlich regte sich Ludmilla.

      «37‘100 für die Dame hier vorne. 37‘100! Wer bietet mehr, 37‘100 zum Ersten, zum Zweiten», sang der Versteigerer sein Lied. Er schaute aufmerksam über die Reihen.

      Ich wartete bis zur letzten Sekunde, bis der Hammer für den Zuschlag zitterte. Dann hob ich die Hand.

      «37‘200 für den Herrn in der letzten Reihe. 37‘200!»

      Ich