Sinja war einfach nur froh, dass sie ihre müden Beine ausstrecken konnte, wenn es auch nur für kurze Zeit sein sollte.
„Amandra“, bat sie die Elfe, nachdem sie sich mit einem erleichterten Seufzer ins Gras hatte fallen lassen, „würdest du mir bitte den Mugol erklären? Was ist das, was uns da die ganze Zeit begleitet hat?“
Amandra setzte sich neben Sinja.
„Die Mugols sind sehr scheue Wesen“, antwortete sie. „Kaum jemand bekommt sie jemals zu Gesicht und schon gar nicht bei Licht. Sie sind so eine Art Erdtroll, ein Mittelding zwischen Troll und Maulwurf. Sie haben den Körper eines Trolls, also einen sehr großen, plumpen Körperbau mit starken Muskeln, aber sie leben im Dunkeln, in Erdhöhlen unter der Oberfläche. Sie können in der Dunkelheit hervorragend sehen. Du hast ja seine roten Augen leuchten sehen. Du siehst von ihm nur den Schatten, aber er hat von uns jede Einzelheit wahrgenommen, und nicht nur gesehen, sondern auch gehört. Sie haben nämlich auch noch ein überaus feines Gehör. Der Mugol hat uns schon gehört, als wir noch Kilometer weit weg waren. Mugols sind normalerweise Einzelgänger. Sie wollen alleine leben und nicht gestört werden. Wenn jemand wie wir durch ihr Revier trampelt, dann werden sie misstrauisch und verfolgen ihn, allerdings nur bis zur Grenze ihres Reviers. Als wir die Grenze überschritten hatten, war ihm klar, dass wir keine feindlichen Absichten hatten. Er verlor das Interesse an uns und ist in seine Behausung zurückgekehrt.“
„Und warum sollte er nicht mitkriegen, dass wir ihn gesehen haben?“, fragte Sinja nach.
„Weil er nicht entdeckt werden will. Wenn er merkt, dass wir ihn gesehen haben, kann er zornig werden und, obwohl Mugols eigentlich friedlich sind, könnte er auf die Idee kommen, uns anzugreifen und das möchtest du nicht erleben, wenn so ein Muskelpaket wütend über uns herfällt. Also lass ihn besser ein paar Kilometer neben dir herlaufen, tu so, als ob du ihn nicht siehst und er wird dich in Ruhe lassen. Deswegen habe ich dir vorhin gesagt, du sollst einfach weitergehen.“
„Danke!“, sagte Sinja erleichtert. „Jetzt geht es mir etwas besser damit.“
„Der hat dir Angst gemacht, nicht wahr?“, fragte Amandra.
„Ja, das hat er, vor allem, nachdem der komische Vogel uns vorhin schon zum Abendessen verspeisen wollte.“
„Das hatten wir von dem Mugol nicht zu befürchten, solange wir seine Eigenarten respektierten. Was mich allerdings wundert ist, dass aus `Morendo´ nichts kommt, dass uns der `Unerhörte´ bislang so unbehelligt marschieren lässt. Ehrlich gesagt hatte ich mit einem Angriff gerechnet und nicht erst jetzt, sondern schon etwas früher. Je näher wir an den Wäldern von `Adagio´ sind, umso ungünstiger wird das Gelände für deren Angriff.
Der Wald ist Elfenland. Da kennen wir uns aus und können es normalerweise mit jedem Gegner aufnehmen. Es wäre viel einfacher für sie, uns hier anzugreifen. Also, warum tun sie’s nicht?“
„Wenn ihnen das so wichtig ist, uns zu massakrieren und sie tun es nicht, dann gibt’s dafür wahrscheinlich nur eine sinnvolle Erklärung: es ist ihnen etwas dazwischen gekommen“, stellte Sinja fest.
„Hey, du denkst ja schon wie eine Elfe", freute sich Amandra, "das klingt zwar seltsam, aber es ist wahrscheinlich etwas Wahres dran. Allerdings gibt es noch eine zweite Möglichkeit, nämlich, dass sie etwas Fieses im Schilde führen, von dem wir bis jetzt noch keine Ahnung haben. Dritte Möglichkeit: sie wollen uns einfach nur schmoren lassen und genau das erreichen, was wir im Moment tun, nämlich uns Gedanken machen, warum sie nicht angreifen. Vielleicht ist das Teil ihres Plans, uns zu verwirren und im Ungewissen zu lassen.“
„Mir wäre wohler“, flüsterte Gamanziel, die den letzten Teil der Unterhaltung mit angehört hatte, „wenn unser `Glissando´ zurück wäre oder wir wenigstens sonst irgendwie Nachricht aus Fasolânda hätten.
Es ist gar nicht gut, so abgeschnitten und ohne Informationen zu sein.“
„Nun“, setzte Amandra fort, „ich wünschte mir auch, dass endlich eine Nachricht von `Seriosa´ käme, doch wir können, so wie die Lage ist, nicht mehr tun, als uns an unseren eigenen Plan zu halten. Jetzt ein wenig ausruhen und dann weitermarschieren, um so schnell wie möglich in die Wälder von `Adagio´ zu gelangen und die `Fermata´ zu erreichen.“
Damit war die Unterhaltung beendet, denn Emelda trommelte schon wieder zum Aufbruch.
„Kinder“, rief sie dazwischen, „wir gehen immer davon aus, dass der `Unerhörte´ unbedingt verhindern will, dass wir mit Sinja in Fasolânda ankommen. Vielleicht muss er das gar nicht mehr. Vielleicht hat er ein Mittel gegen die Geige gefunden. Das wäre allerdings der Super-Gau. Trotzdem gebe ich Amandra Recht – wir müssen unseren Teil tun und erstmal die `Fermata´ erreichen. Vielleicht gibt es dort auch schon neue Nachrichten. Also schlage ich vor, jetzt weiterzugehen.“
„Hmmm, bleibt uns wohl nichts Anderes übrig, oder?“, stellte Sinja gähnend fest.
Ihre Augen waren mittlerweile nur noch halb so groß wie normal. Die Müdigkeit war zurück. Eigentlich hätte sie jetzt gemütlich zuhause im Bett liegen und schlafen sollen. Vielleicht noch ein bisschen lesen vorher, Geolino oder das neue TopModel-Heft und dann schön geschmeidig ins Reich der Träume hinübersegeln. Stattdessen turnte sie hier durch eine fremde Welt, in der sie momentan Gefahr lief, von irgendwelchen schaurigen Flugreptilien als Leckerei zum Abendessen vertilgt oder Opfer sonst irgendeiner Attacke zu werden.
Die Aussichten, hier ungeschoren davon zu kommen, waren jedenfalls nicht die besten. Und jetzt musste sie auch noch, ob sie wollte oder nicht, statt selig und süß zu schlummern und mit Mama zu kuscheln, Kilometer weit laufen, um irgendeine Feradingsda zu erreichen, wo sie angeblich sicher sei und das würde bestimmt noch Stunden dauern und wer weiß, ob sie da überhaupt jemals ankommen würden……
„Ich krieg‘ die Krise“, dachte sie. „Ich bin einfach nur müde und kann nicht weiter. Da kann Emelda noch so laut trommeln.“
Sie legte sich ins Gras und schlief auf der Stelle ein.
Da halfen auch keine Durchhalteparolen mehr.
„Oh je“, klagte Amandra, als sie Sinja liegen sah, „unsere Heldin hat den Kampf gegen den Schlaf verloren. Was nun?“
„Darauf können wir jetzt keine Rücksicht nehmen“, sagte Emelda.
„Wir müssen weiter. Wenn die Sonnen aufgehen und wir sind immer noch in der `Leggiero´, dann kann es brenzlig werden.“
„Da muss ich dir Recht geben“, erwiderte Amandra“, aber was machen wir mit unserer Freundin hier?“
„Wie wäre es denn, wenn wir `Allegro´ das Problemchen überlassen?“, schlug Gamanziel vor. „Ich sehe jedenfalls keine andere Möglichkeit. Es sei denn, eine der Damen hätte ganz große Lust, unsere Geigerin bis zur `Fermata´ zu schleppen. Ich weiß, wir hatten gute Gründe, sie nicht auf das Pferd zu setzen, aber jetzt muss es wohl sein.“
„Na gut, ich hoffe nur, sie fängt nicht noch an zu schnarchen“, knurrte Emelda.
Damit war die schlafende Sinja an `Allegro´ übergeben. Der nahm sie, wie vorher bei ihrem gemeinsamen Reitausflug mit einem Flügel sanft auf, legte sie vorsichtig auf seinen Rücken und lief los.
„Ich liebe dieses Tier“, dachte Gamanziel, als sie sah, wie gefühlvoll der Hengst Sinja behandelte.
Die bekam von alledem nichts mehr mit. Sie war in einen tiefen Schlaf gefallen und träumte von zuhause, träumte von einer ruhigen Nacht auf ihrer weichen Matratze und davon, wie sie am nächsten Morgen fröhlich lachend mit ihren Freundinnen zur Schule ging. Die Mathearbeit, die in der zweiten Stunde geschrieben werden sollte, vor der sie gestern noch furchtbar Angst gehabt hatte, war auf einmal das einfachste der Welt und hatte jeglichen Schrecken verloren. In ihrem Traum freute sich Sinja sogar darauf.
„So ändern sich die Dinge“, hörte sie ihre Mutter leise sagen.