Hilmer. Jörg Olbrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörg Olbrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847645283
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geredet“, erklärte Turgi und ließ Hilmer los.

      „Genau. Es wird Zeit, dass wir endlich vorankommen“, sagte Targi.

      „Es wird bald dunkel“, meckerte Torgi.

      Hilmer ging an den Rand des Felsens und schaute nach unten. Seine Befürchtung, einer seiner Vettern könnte ihn stoßen, erwies sich als unbegründet. Scheinbar hatten Turgi, Targi und Torgi zu viel Angst, so dicht vor ihrem Ziel doch noch in der Hölle zu landen. Etwa zehn Meter unter sich entdeckte Hilmer einen Busch, dessen Wurzeln aus einem Felsspalt herausragten.

      Mit ein bisschen Glück würden die Äste sein Gewicht tragen. Sicher hatte kein Lemming vor ihm versucht, sich so vor dem sicheren Tod zu retten. Die toten Körper zwischen den Klippen verrieten ihm, dass alle anderen im Gegenteil sogar das Ziel hatten, möglichst weit von den Felsen wegzuspringen. Er wunderte sich darüber, wie wenige Leichen er in der Tiefe erblicken konnte. Sicher gab es einen Aufräumtrupp, der die Kadaver entfernte. Hilmer hatte noch nie davon gehört, was mit den Toten geschah. Im Moment hatte er aber andere Sorgen und konzentrierte sich auf seinen Sprung.

      „Willst du ewig da stehen?“, fragte Turgi ärgerlich und tippte Hilmer auf die Schulter.

      „Wenn du nicht gleich springst, stoßen wir dich doch“, drohte Targi.

      „Du wirst heute sterben“, freute sich Torgi.

      Hilmer ging einen Schritt vor und merkte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. Dicht am Felsen stürzte er in die Tiefe und sah auf einmal den Busch direkt unter sich. Der Lemming griff mit beiden Pfoten nach den Ästen und hatte Glück, dass er einen davon mit der Rechten zu fassen bekam. Ein entsetzlicher Ruck zog durch seinen Arm und drohte, ihn aus der Schulter herauszureißen.

      Hilmer zog sich am Ast hoch und fand in dem Busch sicheren Halt. Von dort aus sah er nach oben, wo ihm Turgi, Targi und Torgi mit den Fäusten drohten. Er hörte die Stimmen seiner drei Widersacher, konnte ihre Worte allerdings nicht verstehen.

      Er war seinen Vettern fürs Erste entwischt. Aufgeben würden sie aber sicherlich nicht. Hilmer sah sich nun den Felsen etwas genauer an. Zu seiner Überraschung war die Wand längst nicht so glatt, wie er befürchtet hatte. Sicher. Der Abstieg war gefährlich. Unmöglich war er aber nicht. Begleitet von den Beschimpfungen und Drohungen seiner Vettern machte sich Hilmer auf den Weg nach unten. Als ihm eine der nervigen Fliegen zu nahe kam, nahm er einen Stein und zerschmetterte sie am Fels. Zufrieden schaute er danach auf den reglosen, schwarzen Klumpen, der vor ihm an der Wand klebte.

      5

      „Wer bist du?“, fragte Hilmer und sah das Männchen verwirrt an, das in der Eingangstür der Wohnung stand, die er heute Morgen noch mit seinem Weibchen bewohnt hatte.

      Hier stimmte etwas nicht.

      „Mein Name ist Fred. Ich wohne hier.“

      „Nein. Das tust du nicht“, sagte Hilmer, dessen Verwirrung sich jetzt in Ärger wandelte. „Das ist mein Appartement. Ich teile es mir mit meinem Weib Agnes.“

      „Ach, du bist das“, sagte Fred, machte aber keinerlei Anstalten, Hilmer in die Wohnung zu lassen.

      „Was soll das jetzt wieder heißen?“

      „Agnes hat mir von dir erzählt. Ich dachte, du seist tot.“

      „Wie du siehst, bin ich das nicht. Wo ist sie?“

      „Sie ist unter der Dusche.“

      Hilmer starrte Fred fassungslos an. Es fiel ihm schwer, seinen Zorn im Zaum zu halten. Offensichtlich hatte Agnes die Trauerzeit um ihn nicht über die Maßen ausgedehnt. Der Kerl musste direkt eingezogen sein, nachdem er selbst zum Schicksalsberg aufgebrochen war. Dieses treulose Weib konnte etwas erleben.

      „Lass mich vorbei“, sagte Hilmer und hob die Faust. „Ich war noch nie so lebendig wie jetzt. Das ist meine Wohnung.“

      „Nicht mehr“, entgegnete Fred unsicher. „Agnes hat mir versichert, dass ich hier wohnen kann. Was willst du hier?“

      „Was ich hier will?“ Einen Moment lang glaubte Hilmer sich verhört zu haben, schluckte seine Erwiderung dann aber herunter. Seine Wut wurde noch größer. Er hätte sich am liebsten auf den Fremden gestürzt und ihm mit seinen Fäusten gezeigt, was er von seinem Verhalten hielt. Das brachte Hilmer aber auch nicht weiter. Es war normal, dass sich ein Weibchen nach dem Tod des Ehemannes einen neuen Partner suchte. Dass Agnes aber noch nicht einmal eine Nacht allein geblieben war, ärgerte Hilmer maßlos. Fast sah es so aus, als hätte sie seinen Tod herbeigesehnt.

      „Lass mich vorbei, sonst geschieht ein Unglück“, sagte Hilmer, nachdem er zweimal tief durchgeatmet hatte. Der drohende Unterton in seiner Stimme hatte Fred wohl überzeugt, und er gab den Weg frei.

      Kaum war Hilmer in der Wohnung, spürte er, wie er erneut dicht vor einen Tobsuchtsanfall stand. Er ging zum Badezimmer und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. „Komm sofort da raus! Ich weiß, dass du da bist, und werde nicht eher gehen, bis du mit mir gesprochen hast!“

      Es dauerte nur wenige Sekunden, da öffnete sich die Tür. „Hilmer!“, rief Agnes überrascht. „Warum bist du denn nicht tot?“

      „Diese Frage geht mir langsam gegen den Strich“, zischte Hilmer ärgerlich. „Es scheint keinen wirklich zu freuen, dass ich noch am Leben bin. Ihr müsst mich ja alle wirklich sehr vermissen.“

      „Du siehst das völlig falsch“, versuchte Agnes einen Erklärungsversuch, aber Hilmer winkte nur ab.

      „Wie kannst du nur so pietätlos sein, bereits am Tag meines geplanten Todes mit einem anderen in die Kiste zu springen?“

      „Hilmer, du musst das verstehen.“

      „Ich muss gar nichts. Du hättest ja wenigstens ein paar Tage warten können.“

      „Du weißt, dass ich selbst nur noch zwei Monate zu leben habe“, entgegnete Agnes. „Wir haben keine Kinder, da kann ich ja nicht ewig warten.“

      „Das habe ich ja auch gar nicht gesagt“, erwiderte Hilmer. Seine erste Wut verrauchte langsam und wich einer tiefen Traurigkeit. Seitdem er sich geweigert hatte, vom Todesfelsen zu springen, kamen ihm die Gesetze der Lemminge von Stunde zu Stunde unsinniger vor.

      Das Verhalten seines Weibs gab ihm den Rest. Hilmer hatte drei Monate mit Agnes zusammengelebt und sie geliebt. Bis vor wenigen Minuten hatte er angenommen, dass sein Weib ihn genauso vergötterte wie er sie. Offensichtlich hatte sie ihn aber lediglich als Lustsklaven gesehen, den man beliebig austauschen konnte. Es lag nicht an zu wenigen Versuchen, dass die Partnerschaft der beiden Lemminge kinderlos geblieben war.

      „Was willst du jetzt machen?“, fragte Agnes nach einer Weile.

      „Wie meinst du das?“

       „Du kannst nicht hierbleiben.“

      „Das weiß ich, Agnes. Mach dir keine Sorgen. Ich werde dir und Fred nicht im Weg stehen.“

      „Darum geht es nicht. Der König wird es nicht dulden, dass du dich gegen die Gesetze unseres Volkes stellst. Früher oder später werden sie hier auftauchen und dich suchen.“

      „Das ist mir klar“, gab Hilmer zu. „Ich bin zu dir gekommen, weil ich gedacht habe, dass du dich freust. Das scheint aber leider nicht so zu sein.“

      „Hilmer, was erwartest du eigentlich von mir?“, fragte Agnes mit feuchten Augen. „Ich gebe zu, dass ich vielleicht einige Tage hätte warten sollen, bevor ich Fred zu mir hole. Ich konnte aber die Einsamkeit nicht ertragen. Ich musste doch denken, dass du nicht zurückkommst. Noch nie ist jemand vom Schicksalsberg zurückgekommen.“

      „Dann bin ich eben der Erste“, erwiderte Hilmer. „Ich werde mich nicht freiwillig in den Tod stürzen. Und das solltest du auch nicht tun. Ich dachte, wir gehören zusammen.“

      „Ich kann dir nicht helfen, so gerne ich es auch täte.“