„Eben“, sagte Hilmer. „Darum weiß auch keiner, ob es stimmt, was uns der König erzählt. Vielleicht legt er die heiligen Thesen ja falsch aus.“
„Lass das bloß keinen der Wachleute hören“, warnte Turgi.
„Helmut lässt nicht zu, dass man schlecht über ihn redet“, ergänzte Targi.
„Wenn sie dich erwischen, bist du dran“, warnte Torgi.
„Was soll mir denn passieren?“, fragte Hilmer verblüfft. „Wenn ich die Klippen runterspringe, bin ich tot. Was kann schlimmer sein? Ich gehe jetzt nach Hause.“
„Das kannst du nicht machen!“
„Doch, Targi. Das kann ich und das werde ich auch.“
„Dann bist du kein richtiger Lemming“, warf Turgi seinem Vetter vor.
„Du solltest dich schämen“, ergänzte Targi.
„Deine Eltern würden sich im Grabe herumdrehen“, behauptete Torgi.
„Ihr seid doch nicht mehr ganz dicht“, sagte Hilmer und beschloss, sich von seinen Vettern nicht weiter aufhalten zu lassen. Er drehte sich um und ging die Straße hinunter in Richtung Stadt.
„Warte!“, schrie Torgi und nahm die Verfolgung auf, weil Hilmer einfach weiterging. Turgi und Targi blieb nichts anderes übrig, als sich ihrem Bruder anzuschließen. Die drei waren fest entschlossen, Pfote in Pfote von den Klippen zu springen. Dieses Versprechen wollte keiner der Brüder brechen.
An der Kreuzung zur Hauptstraße, wo der Weg in Richtung Todesfelsen abzweigte, holten Turgi, Targi und Torgi ihren Vetter ein, der dort von einem Wächter festgehalten wurde. Dieser wiederum war völlig überrascht, plötzlich tätig werden zu müssen. Die Stellen in der Garde des Königs waren sehr beliebt, weil sie gut bezahlt wurden und mit sehr wenig Arbeit verbunden waren. Dies war auch der Grund dafür, dass die meisten Mitglieder dieser Einheit unter starkem Übergewicht litten.
„Was soll das heißen? Du willst nicht?“, blaffte der Lemming, nahm seine Zigarre aus dem Mund und starrte Hilmer sichtlich irritiert an.
„Ich habe keine Lust, von dem Felsen in den Tod zu springen. Ich will weiterleben.“
„So ein dummes Zeug hat vor dir noch keiner geredet“, sagte der Wächter grinsend. „Du musst völlig den Verstand verloren haben.“
„Ich meine es todernst.“
Helmuts Helfer schien mit der Situation völlig überfordert zu sein. Niemals hatte er erlebt, dass ein Lemming den Hang wieder herunterkam. Normalerweise bestand seine Aufgabe darin zu verhindern, dass sich einer seiner Artgenossen in den Tod stürzte, bevor er seinen fünfzehnten Lebensmonat vollendet hatte. Unsicher wechselte er den Blick von Hilmer zu den drei Brüdern, die nun ebenfalls neben dem Wachhäuschen stehen geblieben waren.
„Was ist mit euch?“, fragte der Lemming barsch. „Weigert ihr euch ebenfalls, den uns vorbestimmten Weg zu gehen?“
„Selbstverständlich nicht“, entrüstete sich Turgi.
„Das würden wir niemals tun“, bestätigte Targi.
„Wir sind ehrenvolle Lemminge“, versicherte Torgi.
„Ihr seid Spinner“, sagte Hilmer und schickte sich an, seinen Weg in die Stadt fortzusetzen.
„Halt“, schrie der Wächter und baute sich vor dem Flüchtigen auf. „Ich kann das nicht dulden.“
„Was willst du dagegen tun?“, fragte Hilmer grinsend. Er wusste genau, dass sein Verhalten ein einzigartiger Skandal war. Nie zuvor hatte ein Lemming so reagiert. Es gab keine dafür festgesetzte Strafe.
„Ich werde dich zu König Helmut bringen. Soll er entscheiden, was mit dir geschieht.“
„Du kannst mich nicht gegen meinen Willen irgendwo hinbringen“, stichelte Hilmer weiter.
„Wenn wir ihm helfen schon“, sagte Turgi.
„Ihr wollt euch tatsächlich gegen euren Vetter stellen?“, fragte Hilmer.
„Ja“, antwortete Targi. „Wir können nicht zulassen, dass du Schande über unsere Familie bringst.“
„Helmut wird schon eine Lösung einfallen“, bekräftigte Torgi. „Er wird nicht wollen, dass sich andere ein Beispiel an dir nehmen.“
Hilmer blieb nichts anderes übrig, als Turgi, Targi und Torgi in den Palast zu folgen. Er war selbst gespannt darauf, wie Helmut reagieren würde. Angst hatte er nicht. Keine Strafe konnte schlimmer sein als der Tod. Das war ihm an diesem Tag klar geworden. Die drei Brüder nahmen ihren Vetter in die Mitte, um einen Fluchtversuch im Keim ersticken zu können. Der Wächter blieb an seinem Platz und bewachte weiter den Hang, der zum Todesfelsen führte.
2
„Wollt ihr Schwachköpfe mich verarschen?“, schrie Helmut und sprang von seinem Thron auf. „So einen Unsinn habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört.“ Der König sah die beiden Lemminge vor sich mit finsterem Blick an.
Einmal im Monat kamen die beiden Verrückten zu ihm, um ihre neuesten Erfindungen vorzuführen. Viel Brauchbares war in der Vergangenheit nicht dabei gewesen. Jetzt schienen sie aber völlig den Verstand verloren zu haben.
„Unser Kaubonbon funktioniert“, sagte Henni und erwiderte den Blick des Königs.
„Wir haben es mehrfach ausprobiert“, fügte sein Freund Hörg grinsend hinzu.
„Das wird ja immer schlimmer“, wetterte Helmut. „Könnt ihr denn nicht einmal etwas erfinden, was unser Volk auch gebrauchen kann?“
„Aber das haben wir doch“, sagte Henni. „Wenn ein Weibchen diesen Kaubonbon benutzt, wird es nicht mehr trächtig. Damit haben wir unser Übervölkerungsproblem gelöst.“
„Und die Pärchen können sich miteinander vergnügen, sooft sie wollen, ohne dass sie sich über den Nachwuchs Gedanken machen müssen. Stell dir nur vor, was auch dir das für Möglichkeiten bieten würde.“ Hörg sah Helmut grinsend an. Wie alle im Palast wusste er, dass der König für diese Art von Vergnügen nichts übrig hatte und rieb ihm das genussvoll unter die Nase.
„Wir halten unsere Bevölkerungszahlen seit vielen Generationen konstant“, sagte Helmut entschieden. „Muss ich euch wirklich an die heiligen Schriften erinnern? Seitdem der furchtlose Wonibalt zu Beginn unserer neuen Zeitrechnung als Erster eine Gruppe über den Todesfelsen geführt hat, folgen wir diesem Beispiel und es geht uns gut. Hunger, Wohnungsnot und Seuchen gehören der Vergangenheit an und sind uns nur noch aus sehr alten Schriften bekannt. Solange wir diese geregelten Selbstmorde beibehalten, wird es uns an nichts mangeln.“
„Aber genau dafür haben wir ja jetzt die Alternative“, erwiderte Hörg. „Kein Lemming muss sich mehr umbringen.“
„Schweig“, donnerte Helmut. „Ich will nichts mehr von diesem Unsinn hören. Ihr lästert damit gegen die heiligen Thesen unseres Propheten.“
„Vielleicht sollten wir zumindest einen Versuch machen, ob diese Bonbons funktionieren“, schlug Dieter vor. Der Hamster hatte bisher schweigend auf einem Teppich neben dem königlichen Thron gesessen und das Gespräch interessiert verfolgt.
„Halte du dich da raus!“, rief Helmut und warf Dieter einen bösen Blick zu.
„Aber ich bin dein Berater“, entgegnete der Hamster verwirrt.
„Nicht in diesen Fragen“, wiegelte Helmut ab.
„In welchen dann?“, wollte Hörg wissen und fing sich dafür einen Tritt von Henni ein.
„Bist du wahnsinnig“, zischte dieser leise. „Reiz den König nicht noch mehr. Sei froh, dass das außer uns keiner gehört hat.“
Außer