Sie zieht die Brauen hoch. „Weißt du wirklich gar nichts?“
„N...Nein“, gebe ich zu und komme mir plötzlich furchtbar naiv vor. Ohne, dass ich es verhindern kann, brechen die angestauten Ängste der letzten Tage und Wochen über mich herein. Ich muss weinen. Luana steht auf und kommt mit einer Flasche Whiskey aus der gut gefüllten Bar zurück. Gnädig reicht sie mir ein Glas mit der goldbraunen Flüssigkeit. Ich lehne ab, weil ich glaube, dass es besser ist, einen klaren Kopf zu behalten.
Luana zuckt mit den Schultern und kippt den Whiskey selbst in einem Zug herunter.
„Wo ist Ash?“
„Oh, ich schätze unten im Tenfathers. Er weiß noch nicht, dass du hier bist.“
Sie nimmt meine Hand und tut so, als wolle sie mich trösten. „Ash hat dich in Schwierigkeiten gebracht, Taya. Natürlich nicht absichtlich … aber Ash ist – wie soll ich es ausdrücken – unbeherrscht. Ich wollte dich vor ihm warnen.“ Sie seufzt theatralisch. „Doch ich bin auch nur ein Mensch …“ Ich bemerke den Widerwillen, mit dem sie das Wort Mensch ausspricht.
„Und was passiert jetzt mit mir?“ Ich weiß nicht, ob ich die Antwort hören will.
„Das muss Seth entscheiden.“
„Und warum schlägst du dich auf Seths Seite?“
„Er hat er mir eine Menge dafür geboten.“ Ihre Augen zeigen das erste Mal etwas Freundlichkeit. Ich glaube nicht, dass Luana wirklich dieses Miststück ist, das sie vorgibt zu sein. Aber das ändert natürlich nichts daran, dass ich jetzt hier bin.
„Ich habe nichts gegen dich, Taya Bennett. Doch du bist meine Fahrkarte in die Freiheit.“
„Liebst du diesen Seth?“ Ich verstehe Luana einfach nicht.
Sie verzieht ihren dunkel geschminkten Mund zu einem spöttischen Lächeln, doch ich meine Wehmut und Schmerz darin zu erkennen. „Seth zu lieben wäre, als würde man einen Eisberg umarmen.“
Warum glaube ich ihr nicht? Ihre Augen sagen etwas anderes. Sie liebt ihn mindestens so sehr, wie ich Ash liebe; und ich habe das Gefühl, dass sie mir meine Gefühle zu Ash missgönnt.
„Du musst mich nicht verstehen, Taya. Vielleicht wirst du es eines Tages.“
Luana steht auf und geht zur Wendeltreppe.
„Wohin gehst du?“, frage ich sie. Ich kenne die Antwort, doch ich muss einfach fragen.
„Ich hole Seth“, antwortet sie lächelnd.
Seth
Er hat sturmgraue Augen und fast weißblondes Haar, das auf etwa drei Zentimeter Länge gestutzt ist. Als er die Treppe hinunterkommt, glaube ich, die Stufen müssten unter seinem Gewicht brechen. Er ist ein Hüne mit Muskelpaketen. Gegen ihn wirken die meisten Mutanten schmächtig. Seth erinnert mich an einen alten Film, den ich gesehen habe … über einen Boxer mit dem Namen Rocky Balboa, der einen noch viel größeren Boxer aus einem Land namens UDSSR besiegt. Blond, groß, breit … eine Kampfmaschine ohne erkennbare Gefühle in der Gesichtsmimik. An diesen blonden Boxer aus dem Film erinnert mich Seth.
Luana geht hinter ihm – obwohl sie viel üppiger und größer ist als ich, wirkt sie wie ein Püppchen.
„Das ist also Ashs neue Schlampe ...“ Er sieht Luana an, wie um sich Bestätigung von ihr zu holen. Luana nickt.
„Gar nicht sein Typ, oder? Stand Ash nicht immer auf üppige Frauen?“
„Kann sein“, gibt Luana einsilbig zu. Ich habe den Eindruck, dass zwischen den beiden eine negative Spannung herrscht.
Seth betrachtet mich ausgiebig, und ich fange wieder an zu zittern. Ash hatte recht, was seine Beschreibung von Seth angeht – der Typ wirkt auf mich wie ein Monstrum. Das Monstrum, das über ganz Daytown herrscht … Ein unangenehmer Gedanke.
„Weißt du, warum du hier bist?“
Ich schüttele den Kopf.
„Sie weiß gar nichts, Seth.“
„Halt dich da raus“, gibt er Luana bestimmt zu verstehen.
„Typisch für Ash“, wendet Seth sich wieder an mich. Er trägt schwarze, eng anliegende Thermowaxhosen, Stiefel und ein altes Armeeshirt in Camouflagefarben. Dieses alte Armeezeug ist zurzeit gleichermaßen bei Menschen und Mutanten in Mode – seit einige Lager mit Sachen entdeckt wurden, die aus der Zeit vor der Katastrophe stammen. Sogar Sid liebt seine Armeejacke – sie ist das Einzige, das er noch nicht versetzt hat.
„Ash beschäftigt sich mit Sachen, die ich nicht gern sehe. Er weiß das, und er tut es trotzdem. Und deshalb bist du hier.“
Ich starre ihn an und verstehe gar nichts.
Seth scheint das nicht zu stören, er wendet sich an Luana. „Du kannst ihn jetzt holen. Mal schauen, wie er darauf reagiert, wenn er seine süße kleine Fotze sieht.“
Kurz bedenkt Luana Seth mit einem giftigen Blick, dann verschwindet sie im Lastenaufzug.
Ich verkrampfe meine Hände zu Fäusten. Nun wird sich zeigen, was ich Ash bedeute …
Als Ash hinter Luana aus dem Lastenaufzug steigt und mich entdeckt, rastet er fast aus.
Obwohl er einen halben Kopf kleiner ist als Seth, will er auf ihn losgehen. „Du verdammtes Schwein. Halt sie da raus!“
Die beiden prallen aufeinander wie zwei Rammböcke. Ich habe den Eindruck, dass alles und jeder, der sich nun zwischen sie stellt, zermalmt werden würde.
Ihre Beinmuskeln spannen sich unter den Thermowaxhosen, und ohne, dass meine Augen es richtig verfolgen können, zieht Ash eine Art gebogene Stichwaffe von irgendwoher aus seinem Gürtel. Er hält sie Seth an die Kehle, doch der lächelt nur. „Mit diesen Spielzeugwaffen warst du schon immer gut, Ash. Aber denk dran, dass deine Schlampe da drüben auf meinem Sofa sitzt.“
Ash zieht die Waffe zurück, und ich kann sehen, wie seine Muskeln sich entspannen. Er sieht zu mir, unsere Blicke treffen sich kurz, dann wendet er sich wieder an Seth.
„Sie gehört mir. Das ist Gesetz. Spender stehen unter dem Schutz der Loge.“
„Wirklich?“ Seth kommt zu mir und zieht die Magnetfesseln an meinen Händen auf. Unglaublich! Normalerweise braucht es einen De-Poler dafür, aber Seth öffnet die Fesseln mit bloßer Hand. Dann betrachtet er ausgiebig meine Hände und wendet sich wieder Ash zu. „Also ich kann kein Zeichen auf ihren Händen sehen. Sie gehört niemandem. Und was man findet, das darf man behalten.“
Ich schließe die Augen. Hätte er doch den Vertrag mit mir gemacht. Ash antwortet nicht. Er weiß, dass er ohne einen Vertrag kein Anrecht auf mich hat. Aber hat Seth das denn? Ich müsste doch erstmal einem Vertrag zustimmen. Allerdings habe ich das ungute Gefühl, dass für Seth solche Regeln nicht gelten.
„Also, was willst du?“, fragt Ash ihn kalt. Die beiden hassen sich, das ist nicht zu übersehen. Obwohl ich nicht weiß, warum.
„Das weißt du ganz genau. Du wirst zu Magnatec gehen und die Daten löschen, die du gesammelt hast. Unwiderruflich!“
Ash ballt die Hände zu Fäusten. „Nein!“
Ich bete darum, mich verhört zu haben. Luana hatte recht. Ich bedeute Ash nichts – zumindest nicht genug.
Seth kommt zu mir und zerrt mich hoch. Seine Arme umfassen meine Taille, und er drückt mir einen harten brutalen Kuss auf den Mund. Ich kann sehen, dass Ash ihn am liebsten umbringen will, doch plötzlich wendet er den Blick ab und sagt: „Du kannst sie haben.“
„Ash!“,