Geboren im Jahr 1933. Georg M Peters. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georg M Peters
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783742737571
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      Ausbombung

      Wenn wirklich etwas passierte war keine Zeit, Angst zu haben. Eines Nachts im Jahr 1943 rief mein Vater aufgeregt „Anziehen, in den Keller gehen!“ und man hörte, dass es ihm Ernst war. Es war ein anderer Ton als sonst bei den Luftalarmen. Er hatte aus dem Fenster gesehen und am Himmel Leuchtzei­chen, sogenannte „Tannenbäume“ erblickt. Die hatte es vorher nicht gegeben. Sie markierten für die Bombenflieger die Bereiche, in denen sie ihre Bombenlast abladen sollten. Wir waren kaum in unserem provisorischen Luftschutzkeller angekom­men, als das Licht ausging und ein ungeheurer Lärm begann. Ich muss das Bewusstsein verloren haben. Denn später sagte meine Mutter, ich hätte geschrien. Aber daran erinnere ich mich nicht. Meine Erinnerung setzt wieder ein, als der Lärm vorbei war und wir aus dem Keller heraus wollten. Wir gingen in den Nachbarraum, der eine Ladeluke zur Straße hin besaß. Als wir hinausklettern wollten, riss die Mutter uns zurück, weil ein brennender Balken vom Dach auf die Straße fiel. Danach kletterten wir hinaus und begaben uns in den Park, der dem Alsenplatz gegenüber lag. Hier waren wir sicher.

      Gefühle hatte ich überhaupt keine. Ich war quasi nur Auge, das die Umge­bung in sich einsaugte. Zwischen uns im Park und unserem Wohnhaus befand sich im Eckhaus eine Apotheke. Die Apotheke brannte und unter ihr im Keller spielten sich Explosionen ab. Das heißt aus den Kellerfenstern zischten Flammenstrahlen heraus, die die ganze Breite der davor liegenden Straße überdeckten. Gelegentlich erfolgte ein Knall und der Feuerstrahl verlängerte und verbreitete sich. Die Häuserfront, die links den Alsenplatz begrenzte, stand in Flammen. Bei einem dieser vierstöckigen Häuser leuchtete Feuer aus allen Fenstern vom Erdge­schoss bis zum obersten Stockwerk. Dann sah ich, wie sich die Fensterfront ohne ihren inneren Zusammenhalt zu verlieren langsam nach vorne neigte und wie ein Kistendeckel umklappte.

      Meine Einstellung zum Führerregime

      Meine Kinder heute stellen wenig Fragen nach den Ereignissen jener Zeit. Ich vermute, das liegt an der Art wie sie darüber unterrichtet werden. Sie denken vermutlich, wenn ich über diese Zeit redete, müsste ich über schreckliches Leid, über Tote und Sterbende reden, darüber, wie wir die Juden aus der Stadt getrieben hätten – und über die Verbrechen, die ich selbst begangen habe. Ich will das hier tun und über meine Verbrechen berichten. Ich gestehe, dass es mir als Zehnjährigem an jedem globalen Weitblick und an Solidaritätsbewusstsein mit den unterdrückten Völkern gemangelt hat. Auch an jeder Kritik und jedem Widerstandswillen gegen das diktatorische Regime, unter dem ich aufwuchs.

      Mein Widerstand beschränkte sich darauf, dass ich es nach Möglichkeit vermied, zum Dienst im Jungvolk zu gehen. Dieser Dienst begann damit, dass die Mutter mit mir zu einem Ausstattungs­geschäft in der Holstenstraße ging. Vier Eisen­stu­fen ging es hoch zu dem kleinen Laden. Dort wurde für mich ein Braunhemd, ein Halstuch mit Lederknoten und ein Koppel mit Koppelschloss gekauft. Aber leider keine Cordhose, denn die wollte meine Mutter selbst nähen. Und der Koppel, den meine Mutter aussuchte, bestand nicht aus Leder, sondern aus einem brüchigen Kunststoff. Die fehlende Cordhose und der Ersatz durch eine selbstgenähte Hose aus dickem schwarzem Stoff hat mir beim Dienst stets ein Minderwertig­keitsge­fühl eingeflößt. 1943, noch vor dem beschriebenen Luftangriff, musste ich an einer Versammlung unter Leitung des Hauptjungzugführers teilnehmen. Dreißig Jungen hörten eine Stunde lang seinen Ausführungen zu und versuchten, Fragen zu beantworten. Ich musste die Frage nach dem Geburtsdatum des Führers beantworten, was ich auch konnte. Schließlich hielt ich viel von unserem Führer. Ich war kein Verehrer von ihm, und ich dachte auch nicht viel über ihn nach. Aber dass er der größte aller Staatslenker war, das war ja unzweifelhaft. Dieses Wissen gehörte zu den selbstverständlichen Randbedingungen meines Daseins. Schließlich hatten wir ja auch die beste Wehrmacht, die beste Luftwaffe und die beste Kriegsmarine, vor allem die besten U-Boote der Welt. Aber dennoch war diese Jungvolk-Versammlung ein abschreckendes Beispiel für mich. Auch im Anbetracht aller Zusammenkünfte mit Gleichaltrigen später in der Schule oder in Jugendher­bergen war diese Jungvolkversammlung bei weitem die langweiligste. Nach der Ausbombung habe ich mich stets erfolgreich um einen weiteren Dienst im Jungvolk herum gedrückt.

      Ein Problem, das mich wirklich beschäftigte, war die Funktion des Viertakt­motors. Mein Großvater, der zur See gefahren war und eine Zeit lang die Fachhochschule in Wilhelmshaven besucht hatte, schenkte mir einen Taschenka­lender. Darin war die Funktionsweise des Viertaktmotors an Hand von Schaubildern erklärt, und ich hatte das Prinzip begriffen. Das habe ich als einen großen Erfolg erlebt. Von meinem Großvater - es war, wie gesagt, der Großvater mütterlicherseits, die Großeltern väterlicherseits waren schon gestorben – hatte ich auch ein großformatiges Buch mit Darstellungen von Maschinenteilen bekommen. Nun wollte ich so, wie ich das Viertaktprinzip begriffen hatte, auch das Prinzip des Vergasers an Hand eines Schaubildes verstehen. Das ist mir nicht gelungen.

      Mein Großvater und ich

      Zu meinem Großvater hatte ich ein recht inniges Verhältnis. Ich glaube, meine Mutter hatte unter ihm in jüngeren Jahren gelitten, weil er Alkoholiker war und womöglich seine Frau schlug. Doch als ich ihn kennen lernte, waren diese Probleme bewältigt. Er war noch gut zu Fuß. So ging er von seiner Wohnung in der Stiftstraße zur Wohnung meiner Eltern, die damals noch in der Düppelstraße wohnten. Ausgebombt wurden wir in der Missundestraße. Wenn mein Großvater in die Düppelstraße kam, wurde ich in eine Karre gesetzt und er machte sich damit auf den stundenlangen Weg nach Hochkamp zu seiner anderen Tochter Hedwig. Tante Hedwig und ihr Mann, Onkel Willi, hatten ein Haus mit großem Garten. Ein Aufenthalt dort war immer etwas besonderes. Am Abend schob mein Großvater mich wieder nach Hause. Im Winter, wenn es kalt war, zog er seine dicke Joppe an und machte sich mit mir auf den Weg. In der Silvesternacht sahen wir unterwegs Jugendliche, die am Kantstein Feuerwerkskörper entzündeten. Ich fragte meinen Opa, was die dort machten. Das Gute an diesen Unterhaltungen war, dass er immer auf alle meine Fragen eine Antwort parat hatte. „Die schießen das alte Jahr um die Ecke,“ belehrte er mich. Ich war stolz darauf, dass ich gesehen hatte, wie das alte Jahr um die Ecke geschossen wurde, und erklärte zu Hause meinen Eltern voller Stolz, dass ich gesehen hätte, wie das alte Jahr um die Ecke geschossen worden sei.

      Besondere Höhepunkte waren es, wenn meine Schwester und ich zu meinen Großeltern gebracht wurden. Wir hatten dort unsren eigenen Parcours, auf dem wir herum rannten. Der führte von der Küche auf den Küchenbalkon. Das Fenster zur Toilette musste offen stehen, so dass wir durch das Fenster in die Toilette steigen konnten. Von dort ging es weiter durch einen schmalen Gang, der von der Toilette zum Flur führte. Der Flur war schmal und lang und gebogen. Wenn man ihn entlang gelaufen war, konnte man wieder in die Küche zurück kehren und einen zweiten, dritten oder vierten Durchlauf starten. Etwas unangenehm war, wenn die Oma mir ein Staubtuch in die Hand drückte und verlangte, dass ich zunächst einmal auf dem Klavier und dem Harmonium Staub wischte. Interessant war für mich immer, wenn der Opa eine seiner vielen Kuckucksuhren auseinander nahm, reparierte und dann ausprobierte. Manchmal, wenn man ihn darum bat, spielte er auch auf dem Klavier das „Frühlingsrauschen“ von Sinding. Gelegentlich hatte er einen Freund zu Gast, mit dem er Schach spielte.

      Für mich waren noch andere Momente interes­sant. Etwa wenn er in seinem Sessel vor dem Fenster saß, die Wohnung war im Hochparterre, und ich mit meinen kurzen, ausgestreckten Beinen auf der Fensterbank. Unten, auf der gegenüber liegenden Straßenseite war ein Park, der zu einem Altersheim gehörte. Beim Aus-dem-Fenster-schauen hatten wir in dem Park eine alte Frau beobachtet, die dort spazieren ging. Da mein Opa alles wusste, fragte ich ihn, wer das sei. Er erklärte mir, das sei das „liebe Lieschen“. In Hamburg gab es einen entsprechenden Ausspruch. Wenn man etwas Kaffee verschüttet hatte, dann pflegte man zu stöhnen, „ach du liebes Lieschen!“ Und hier hatte ich das liebe Lieschen nun tatsächlich vor Augen. Von da an galt ihm mein Hauptinteresse. Wenn ich bei meinem Großvater war, wollte ich alles über das „liebe Lieschen“ wissen, vor allem, wann es wieder vorbei­kommen und zu sehen sein werde. Irgendwie hat er es jedesmal geschafft, meine Neugier zu befriedigen. Ich war dann beruhigt und wartete voller Neugier auf die nächste Begegnung mit dieser interessanten Dame.