Natürlich hatte Britney gleich nachdem ihr Vater am Abend von der Arbeit nachhause gekommen war, gemütlich gegessen hatte und damit milde gestimmt worden war, gefragt, ob es denn in Ordnung ginge, wenn Shane sie besuchte.
„Das ist doch der Ire?“, hatte er gefragt.
„Der Ire, der mich gerettet hat“, hatte sie geantwortet und nervös auf den Fingern gekaut, einen flehenden Blick zu Joey, der oben an der Treppe wartete, geworfen und gebetet.
„Er hat dir das Bild geschenkt, nicht?“Ihr freundlich aufgesetztes Lachen erstarb. Er mochte ihn immer noch nocht. Zwar war er dankbar, dass Shane seine Tochter gerettet hatte, das konnte man Joan eingestehen. Mehr war es aber nicht. Bei jeder Erwähnung, bei jedem Besuch in ihrem Zimmer, wenn sein Blick auf das gemalte Bild fiel, konnte man Joans‘ Hass in seinen Augen nicht verkennen. Wie sollte seine jahrelange Abneigung auch nur in einem Moment verfliegen?
Er hatte Angst, Angst davor, Britney an einen Iren verlieren zu können. So wie ihre Mom.
„Dad, er bringt mich doch nicht um!“
„Nein, aber ich möchte dich auch in keiner anderen Weise verlieren.“
Ihr Kopf dröhnte. Warum half ihr Joey nicht. Hatte er nicht gesagt, er würde Shane richtig mögen?
Was konnte sie ihrem Dad sagen, was sollte Joan klar machen, dass er sie nicht an Shane – einen Iren – verlieren würde? Obwohl er das schon längst hatte. In dem Augenblick als Shane sie geküsst hatte.
Immer wieder hatte ihr Bruder nur ahnungslos und ebenso verzweifelt wie sie es war mit den Schultern gezuckt, war aber nicht eingeschritten.
Letzten Endes und sicherlich aus lauter Verzweiflung und Sehnsucht nach ihm, hatte sie die Worte ausgesprochen, Worte, von denen sie noch nicht sicher sagen konnte, ob sie sie bereuhen würde, oder nicht.
„Dad, du kannst mich nicht an ihn verlieren … er ist nämlich … schwul“
Mit ihrer Stimme, die sie lebendig neben sich hören konnte, die sie auf Schritt und Tritt verfolgte , im Kopf, erklomm sie die, vom schon gefallenen Schnee, nassen Stufen zu ihrem Haus, sperrte die Tür auf und trat ein.
Jetzt war es soweit, Shane würde schon morgen bei ihr sein. Britney schloss kurz die Augen, um sich ihn vorzustellen. Wie er sie anlachte, bis über beide Ohren, strahlte und sie in die Arme schloss.
„So, schwul?“
Es gab eine lange Pause, in der ihr Vater anscheinend überlegen musste. Wenn er schwul war, konnte er Britney nichts tun. Höchstens Joey. Ihr wurde schelcht, Joey? Oh mein Gott. Hoffentlich würde es ihrem Vater nicht in den Sinn kommen.
Es war ihm nicht in den Sinn gekommen. Beinahe freundlich hatte er zugestimmt. Glücklich übersprang sie die wenigen Stufen bis zu ihrem Zimmer, warf ihre Tasche in eine Ecke und schmiss sich auf das weiche und frisch gemachte Bett.
Wie oft hatte sie auf ihrer Fensterbank gesessen? Erst recht vergangenen Winter. Hatte die verschneite Landschaft beobachtet und einen heißen Kakao getrunken, auf vorbeilaufende Menschen geblickt und gehofft, Shane wäre unter ihnen.
Die Tür wurde geöffnet und Joey lugte vorsichtig zu ihr hinein. Seit Tagen gab es zwischen den Geschwistern kein anderes Thema. Nichts als Shane. Gemeinsam hatten sie einen Plan ausgeheckt um ihre Liebe, ihre Beziehung vor Joan und Evia, ihrer Stiefmutter zu verbergen. Um das zu tun half es natürlich alles nichts. Sie hatte die schwere Aufgabe, Shane in einer SMS zu sagen, wie schwer sie ihren Vater angelogen hatte und ihm in ihrer Not gesagt hatte, er wäre homosexuel.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Ok, ich färb‘ mir die Haare aber nicht rosa!
Damit war alles gesagt. Ob ihr Freund sich darüber amüsierte, oder wirklich ärgerte wusste sie nicht. Hoffte aber, dass er es verstand.
3.
Sein Koffer war gepackt. Als wäre er für Shane ein Zeichen, dass es Britney noch gab, dass es sie jemals gegeben hätte und dass er sie bald wiedersehen würde, lag er sorgfältig geschlossen auf dem Bett.
Shane selbst hatte sich an den Schreibtisch gesetzt, die Tür verschlossen und sich aus seinem Fotoalbum ein altes Bild herausgenommen. Es zeigte ihn und Lie. Beim Baden vergangenen Sommer. Lie war auf seinen Rücken gesprungen und versuchte ihn vergebens zu Fall zu bringen. Da er ihn huckepack trug, beide in Badehosen waren, und Lie so eng an ihm klebte, fand Shane, dass das Bild ein guter Beweis für seine „Neigung“ zu Männern wäre. Um vor Britneys‘ Vater glaubwürdig zu wirken könnte er ihm das Bild mit den Worten: „das ist mein Freund, Lie“, in die Hand drücken.
Mit seiner Arbeit zufrieden steckte er das Foto in seinen Geldbeutel, legte ihn zu den restlichen Sachen in seinen Koffer und hievte diesen in eine andere Ecke des Zimmers, denn er wollte jetzt schlafen gehen. Gegen acht Uhr ging sein Flieger. Shane rollte mit den Augen. Gottseidank! Wenn er in ihm saß, würde er sich sicherlich bekreuzigen, denn allein das ganze Zeug, was er ausfüllen musste, um einreisen zu dürfen, hatte ihm beinahe sämtliche Vorfreude versaut.
„Ich geh‘ jetzt ins Bett.“, schrie er von der Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Sein Vater, seine Mutter und seine Schwestern saßen vor dem Fernseher und sahen sich „Lettermann“ an.
„Gute Nacht mein Schatz! Genieß‘ deine letzte Nacht in deinem Bett.“
Er lachte. „Ja das mach ich. Danke Mom.“
„Hört jetzt auf zu schreien! Ich will das hören!“
„Ja, Dad.“
„Schlaf gut, Shane.“
„Danke Dad.“
Dann war im Hause Ó‘ Brannagh wieder Ruhe eingekehrt. Müde aber doch aufgekratzt ließ er sich aufs Bett fallen. Noch eine Weile lang drang die tiefe Stimme Lettermans zu ihm hinauf, durch die geschlossene Tür hindurch. Britney hatte ihm beinahe den ganzen Tag nicht geschrieben. Was tat sie?
Aufgewühlt schaltete er das matte Licht über seinem Bett aus und machte es sich in der Dunkelheit bequem. Egal was es war. Schon morgen würden sie es gemeinsam tun.
„Hast du alles?“
„Ja mom.“
„Deinen Pass?“
Zum gefühlten tausendstem Mal griff sie ihm in die Seitentasche seiner Jacke, zog den Reisepass heraus und musterte ihn. Genau beobachtete sie sich selbst, dass sie ihn ja wieder an die gleiche Stelle zurücksteckte.
„ich hab‘ alles mom.“
Mit Tränen in den Augen brachte sie ihn zum Auto und umarmte ihn innig. „Pass‘ auf dich auf, Shane.“
Er nickte.
Sein Vater war früh am morgen zu ihm gekommen, hatte ihn geweckt und sich von ihm verabschiedet. Das musste er tun, da er früh in die Arbeit musste. Seine Schwestern waren nicht anders. Sie wollten einfach lange schlafen, es war ein Samstag morgen. Sie hatten alle das Recht dazu. Aber Shane wusste auch so, ohne dass sie ihm lebwohl sagten, dass sie ihn liebten und ihn vermissen würden.
„Bye, Mom.“
Sie winkte zum Abschied, sah ihm lange hinterher, wie er in den Wagen stieg, sich anschnallte und die Straße langsam verließ.
„Bist du aufgeregt?“, fragte sein Onkel und rückte den Innenspiegel zurecht.
Richard war sein Großonkel. Sie alle nannten ihn „Onkel Richie.“ Er war zweiundsechzig Jahre alt und Pfarrer. Früher, vor vier Jahren hatte er in Malahide, einem Vorort von Dublin gewohnt und gearbeitet. Hatte es bei den „reichen Pinkeln“, wie er es sagte, nicht mehr ausgehalten und war zu ihnen zurückgekehrt.