Im Schatten des Todes. Aris Winter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Aris Winter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748588269
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Freund von Lena, nur vom sehen her. Sie hatten bisher noch nie ein Wort gewechselt. Kevin war etwas kleiner und fester gebaut als er. Als Liam ihn zum ersten Mal gesehen hatte dachte er prompt an einen Pitbull. Die Haare trug er als Millimeterschnitt unter einer Mütze versteckt. Die breite Nase und der schmale Mund hatten etwas von einem Boxer. Meist lief er mit Trainerhosen und weitem Shirt herum. Absolut ohne Stil. Er war ihm von Anfang an unsympathisch. Liam hingegen wurde von seinem Umfeld oft als attraktiv bezeichnet, auch wenn er sich dafür schämte. Kurzes, blondes Haar, blaue Augen, schmale Nase, starke Wangenknochen, gross gewachsen und schlank. War etwa Eifersucht im Spiel? Liam setzte sich wieder auf die Couch, lehnte sich erschöpft zurück und atmete ein paar Mal tief durch. Er wusste nicht, was er sonst hätte tun sollen. Kurz zuvor war er noch alleine und studierte Berichte über das erfolgreiche Traden im Internet und nun war er in einer völlig neuen Situation. Innert ein paar Minuten hatte sich die Lage zugespitzt. Es herrschte der totale Ausnahmezustand und er wusste nicht, wie diese Nacht für ihn enden würde. Lena sass noch immer auf dem Stuhl am Esstisch. Bernard spielte ungewöhnlich ruhig in seinem Kinderzimmer. Er starrte an die schwarze Mattscheibe seines Fernsehers, fühlte seinen starken Herzschlag und liess seinen wirren Gedanken freien Lauf. Draussen wurde es ruhiger. Der Feierabendverkehr nahm sein gewohntes Ende. Der Regen hatte etwas nachgelassen und auch der Wind beruhigte sich. Es war dunkel und still. Fast bedrohlich still.

      Das unverhoffte Geräusch von zerschmetterndem Fensterglas riss Liam und Lena aus ihren Gedanken. Liams Herzschlag verdreifachte sich beinahe. Lena lag mit einem Schlag wieder unter dem Tisch. Das Geräusch kam aus dem Kinderzimmer. Ihm wurde sofort bewusst, dass er dort den Rollladen nicht heruntergelassen hatte, weil er Bernard nicht beim Spielen stören wollte. Zudem brannte dort das Licht. Er wollte zum Kinderzimmer rennen, doch seine Beine fühlten sich an wie gelähmt. Er wusste nicht, ob jemand in die Wohnung eingedrungen war, oder ob nur ein Gegenstand durch das Fenster geschleudert wurde. Nach einigen Sekunden des Zögerns rannte er schliesslich zum Kinderzimmer und öffnete die Türe. Der Fussboden war mit Glassplittern übersät. Das Fenster wurde von innen geöffnet. Die Spielzeugkiste stand in der hinteren Ecke und die Spielzeugautos lagen über dem Fussboden verstreut. Der Wind wirbelte den Vorhang wild durch die Luft, doch Bernard war spurlos verschwunden. Nur der kalte, elende Regen prasselte ihm erneut ins Gesicht. So schloss er die Augen und hoffte, aus diesem Albtraum zu erwachen.

      Als Liam die Augen nach ein paar Sekunden wieder öffnete, prasselte ihm noch immer der kalte Regen ins Gesicht. Er wusste, dass dies kein Traum war. Lena sass im Flur vor dem Kinderzimmer. Ihre Arme hielt sie eng um ihre Unterschenkel umschlungen, das Gesicht in den Armen vergraben. Sie weinte. Bernard war spurlos verschwunden und Liam stand auf der Todesliste eines unbekannten Auftragskillers. Er griff in die hintere Hosentasche, zückte sein Telefon und wählte den Polizeinotruf. Gerade als er den Hörer ans Ohr nehmen wollte schlug ihm Lena das Telefon aus der Hand. Es fiel zu Boden, das Glas des Bildschirms zersplitterte und es schaltete sich aus. Liam drehte sich erschrocken um und blickte in das tränenüberströmte Gesicht von Lena.

      “Ich habe dir doch gesagt, dass die Polizei alles nur noch schlimmer macht”, sagte sie mit zittriger Stimme.

      “Und was sollen wir nun deiner Meinung nach tun?”, schrie er sie an. Seine Stimme bebte. Er verliess das Kinderzimmer, löschte das Licht hinter sich und verriegelte die Türe vom Flur her. Irgendwo da draussen war dieser gefährliche Typ und hatte ihren Sohn unter Gewalt.

      “Was will der Typ von mir? Und warum hat er nun Bernard entführt? Das macht doch gar keinen Sinn, verdammt”, stöhnte Liam. Lena folgte ihm zurück ins Wohnzimmer.

      “Setz dich hin, ich werde dir die ganze Geschichte erzählen”, antwortete sie noch immer mit zittriger Stimme.

      Liam setzte sich erneut auf die Couch. Jedoch sass er diesmal aufrecht und sein Oberkörper versteifte sich merklich. Er rutschte ungeduldig hin und her. Seine Beine wollten eigentlich ein paar Schritte zurücklegen, doch er hätte nur im Wohnzimmer auf und ab gehen können. Also blieb er stattdessen sitzen und rieb sich nervös mit den Händen über die Oberschenkel. Lena setzte sich neben ihn auf die Couch und versuchte vergeblich Blickkontakt herzustellen.

      “Kevin und ich kennen uns nun seit drei Jahren. Er war mein Arbeitskollege, doch dann wurden unsere Gefühle füreinander immer stärker. Nachdem ihn seine Freundin verlassen hatte tat er mir Leid und ich habe ihn wieder aufgebaut. Wir haben uns mit der Zeit ineinander verliebt. Gleichzeitig wurden wir uns fremd und du hast mich mehrmals im Stich gelassen, mich belogen und betrogen. Ich habe ihm sein Selbstwertgefühl zurückgegeben, während du mir meines genommen hast. Eines Abends, als wir mit den Arbeitskollegen zu Abend gegessen haben, vertraute er mir ein Geheimnis an. Er hatte in seinem bisherigen Leben alles erreicht was er wollte, jedoch konnte er aus gesundheitlichen Gründen keine eigenen Kinder kriegen. Er träumte von einer Familie. Von einem Kind. Und ich hatte dieses Kind, das er sich so sehnlichst wünschte. Daraufhin hatte er mir angeboten, meine Schulden zu begleichen, sofern ich bei ihm einziehe. Ich habe ihm einen Vertrag unterschrieben, weil ich aus dieser beschissenen Schuldenspirale heraus wollte. Ich wollte endlich wieder frei sein, wieder reisen können und mein Leben geniessen.” Lena hielt inne. Liam blickte ihr unentwegt in die Augen. Seine Stirn lag in Falten. Inzwischen hatte er seine Nervosität unter Kontrolle. Er sass noch immer aufrecht und steif auf der Couch und lauschte der Geschichte seiner Frau.

      “Und dann?”, fragte er nach einer Weile der Stille.

      “Ich habe den Vertrag nicht durchgelesen, weil ich dachte es würde sich nur um diese eine Leistung handeln. Doch er wollte noch mehr. Er wollte Bernard adoptieren. Und er wollte, dass Bernard den Kontakt zu seinem geliebten Vater verliert.”

      Liam schauderte unweigerlich bei diesem Gedanken.

      “Wie kann ein Mensch eine solche Forderung stellen?”, fragte er ungläubig.

      “Er wird dich töten”, sagte Lena bestimmt.

      “Er hat Kontakte zur Mafia und ich glaube, der Typ der soeben an der Türe gestanden hatte, war einer von ihnen.” Lena schlug sich die Hände vor das Gesicht und weinte erneut.

      “Ach das ist wieder einmal typisch für dich. Du unterzeichnest Papiere, die du nicht hinterfragst und über die du dir keine Gedanken machst. Weil du keine Geduld hast, sie vollständig durchzulesen. Du glaubst immer, alle würden dir etwas schenken, doch im Leben ist nicht immer alles Gold was glänzt und alles hat seinen Preis. Meist einen höheren, als man überhaupt bezahlen kann. Und nun soll Bernard diesen Preis bezahlen? Ist es wirklich das, was du willst?”, tobte Liam unverhofft los. Lena schüttelte heftig mit dem Kopf und versuchte ihn erfolglos zu beruhigen.

      “Wo wird er Bernard hinbringen?”, fragte Liam weiter und rutschte wieder ungeduldig auf der Couch hin und her.

      “Er nimmt ihn bestimmt als Druckmittel. Wenn du also die Polizei einschaltest wird er in grosser Gefahr sein. Ich will nicht, dass ihm etwas zustösst”, schluchzte Lena.

      “Wenn ihm etwas zustösst, dann ist das einzig und alleine deine Schuld und das würde ich dir niemals verzeihen”, entfuhr es Liam. Er war völlig in Rage und nervlich am Ende.

      “Wenn die Polizei wirklich alles schlimmer macht, dann müssen wir es eben auf die eigene Faust regeln”, meinte er schliesslich und schlug sich mit eben dieser bestätigend auf den Oberschenkel.

      In dieser Nacht hatte er kein Auge zugedrückt. Die Gedanken an seinen Sohn waren ständig präsent. Er hörte den Wind im Kinderzimmer. Der Vorhang peitschte gegen die Wand. Lena lag neben ihm im Bett und schluchzte vor sich hin. Liam wusste nicht, ob er sie trösten oder hassen sollte. Er hatte schnell einmal Mitleid wenn jemand um ihn herum anfing zu weinen. Wie konnte sie ihm das nur antun? Er hatte immer pünktlich die Alimente beglichen, sich um seinen Sohn gekümmert und sich regelmässig nach dem Wohlbefinden bei ihr erkundigt. Zum Dank kam sie mit einer verworrenen Geschichte und machte ihn zur Zielscheibe der Mafia. Er wälzte sich im Bett hin und her. Er musste sich einen Plan ausdenken. Doch er wusste nicht, wo er überhaupt hätte anfangen sollen. Die Gefahr lauerte an jeder Ecke. Nicht einmal in seiner Wohnung schien er mehr sicher zu sein. Immerhin hatten es diese Bastarde geschafft, unentdeckt in das Zimmer im vierten Stockwerk zu gelangen, ein Kind zu entführen und sich aus dem