Im Schatten des Todes. Aris Winter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Aris Winter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748588269
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blieb bei der Hoffnung. Denn seine Frau hatte inzwischen einen anderen Mann kennengelernt. Noch immer wohnte er in der Viereinhalb-Zimmer-Wohnung direkt an einer Hauptstrasse des Vorortes von Zürich. Gegenüber eines Hotels. Inzwischen hatte er einige gemeinsame Bilder von ihm und seiner Frau von den Wänden abgehängt und sie mit Bildern seines Sohnes und seiner Familie ausgetauscht. Es war ein erster Versuch über sie hinweg zu kommen. Doch es klappte mehr schlecht als recht, da er seine Frau jedes zweite Wochenende sah, wenn sie ihren Sohn vorbei brachte oder ihn wieder abholte. Meist kam es zu einem kurzen Gespräch zwischen ihnen und er spürte, wie er sich wieder Hoffnung machte, wenn sie ihn dabei anlächelte oder ihm kurz auf die Schulter klopfte. Er musste sich zurückhalten wenn er den Drang verspürte, sie in den Arm zu nehmen oder ihr liebevoll über das Haar zu streichen. Sobald sie wieder weg war kam erneut die Ernüchterung und Hoffnungslosigkeit. Er merkte was er an ihr verloren hatte. Hin und wieder suchte er nach einer neuen Wohnung, doch er war nicht konsequent genug sich ernsthaft daran zu setzen. Insgeheim hoffte er, dass alles wieder so würde wie es einmal war. Dass sie eines Tages zurückkam und ihn um Verzeihung bat oder ihm eine letzte Chance gab. Er vermisste die guten, alten Zeiten. Wenn er im Internet eine freie Wohnung fand, die ihm auf den ersten Blick gefiel, dann suchte er immer irgendein Detail, das ihn davon abhielt, eine Bewerbung für die Wohnung einzureichen. Vielleicht war es auch die Angst vor der Veränderung oder vor einer Absage. Er wusste es nicht so genau. Daraufhin liess er wieder einige Tage nutzlos verstreichen und plagte sich mit Albträumen, die von seiner Frau handelten. Wenn er dann schweissgebadet aus dem Schlaf gerissen wurde fühlte er den unerträglichen Schmerz in seinem Herzen und ein flaues Gefühl in der Magengegend. Selbst die stillen Gebete zu Gott schienen nicht erhört zu werden. Er glaubte an gute Geister und an ein Leben nach dem Tod. Seine religiösen Ansichten hatten sich über die Jahre drastisch verändert. Aufgewachsen als Katholik mit einem gesunden Glauben an Gott kam er mit der Zeit immer mehr in die Berührung mit dem Buddhismus. Auch wenn er sich nicht an deren Lehren hielt gab es doch viele Punkte, in denen er eine grössere Wahrscheinlichkeit vermutete als er in den Überlieferungen der Bibel erkennen konnte. Kurz nach der Trennung hatte er begonnen, sich mit der Meditation zu beschäftigen. Er versuchte die Innere Mitte zu sich selbst zu finden. Stundenlang sass er auf seinem Bett und lauschte der esoterischen Musik, die aus seinem Kopfhörer drang. Er spürte, wie es ihm eine gewisse Ruhe verlieh. Manchmal schlief er dabei sogar ein. Doch alle Versuche, sein Inneres Licht zu finden, scheiterten kläglich. Es blieb dunkel und nichts veränderte sich. Irgendwann gab er die Selbstversuche auf. Vielleicht hatte er nicht die nötige Ausdauer oder den Willen aufgebracht, es wirklich zu wollen. Es hätte mehr Zeit benötigt, doch die wollte er sich nicht nehmen. Für ihn musste immer alles schnell gehen. Auf etwas zu warten, das ihm keine Garantie gab, auch Wirklichkeit zu werden, schien für ihn die reine Zeitverschwendung. Auch wenn er sich stark vornahm einen Psychologen aufzusuchen, blieb es meist beim Vorhaben. Er brachte nicht den nötigen Mut auf sich seinen Problemen zu stellen, stattdessen lenkte er sich mit Unwichtigem ab und vertrieb seine Zeit anderweitig. Mittlerweile glaubte er sogar, dass nicht er ein Problem hatte, sondern andere hatten ein Problem mit ihm. Mit seiner Art oder mit seiner Persönlichkeit. Er dachte oft über die letzten gemeinsamen Jahre mit seiner Frau nach. Manchmal fragte er sich, ob er wirklich so ein schlechter Ehemann war, wie alle Menschen in seinem Umfeld behaupteten. Freunde, die sich über die Zeit von ihm abgewandt hatten. Still und heimlich den Kontakt ins Leere laufen liessen, ohne sich bei ihm zu verabschieden. Keine Reaktion mehr zeigten, wenn er ihnen eine Nachricht schrieb und sie nach ihrem Befinden fragte. Er sah keine Gründe für dieses Verhalten. Sie hatten eine gute Zeit zusammen. Viel gelacht und dabei Spass gehabt. Und plötzlich waren sie einfach weg. Irgendwo im Alltag verschwunden. Es bereitete ihm Kopfschmerzen und er fühlte diese Leere in seiner Magengegend. Er stand alleine da und hatte es nicht einmal bemerkt, wie die Menschen um ihn herum langsam aus seinem Leben verschwunden waren. Dieses unerträgliche Gefühl von Selbstzweifel machte ihn verrückt.

      Seit er alleine war hatte er angefangen, sich für Trading zu interessieren. Im Internet gab es zahlreiche Plattformen, auf denen er in Wertpapiere und Währungen spekulieren konnte. Als Finanzmanager einer Grossbank war er an der Quelle des Geschehens und konnte die Kurse tagsüber in Echtzeit verfolgen. Er kannte eine handvoll Arbeitskollegen, die sich damit in kürzester Zeit ein beträchtliches Vermögen aufgebaut hatten. Nicht selten verdoppelten sie mit ein paar guten Trades innerhalb von einer Stunde ihr Tagesgehalt. Trotzdem musste er feststellen, dass es sich dabei auch nur um eine Art Glücksspiel handelte. Ohne Strategie gab es keinen nennenswerten Erfolg und ihm fehlte oft das Glück. Er hätte auch ein Online-Casino besuchen oder Sportwetten abschliessen können und wäre mit höchster Wahrscheinlichkeit auf dasselbe Resultat gekommen. Das Lottospiel und die Hoffnung auf einen Millionengewinn begrub er bereits vor Jahren. Die Chancen waren derart gering, dass ihm der Preis für einen Lottoschein schlicht zu hoch war. Sein bester Freund Matt warnte ihn immer wieder vor den Risiken eines Verlustes, doch bei Liam ging Probieren über Studieren. Er glaubte, dass Matt bloss ein Weichei war, der sich nicht getraute ein Risiko einzugehen. Oder ein Heuchler, da ihn Liam manchmal dabei erwischte, wie er sich heimlich ein Gewinnlos am Kiosk kaufte und es dann unauffällig öffnete, um festzustellen, dass er wieder nichts gewonnen hatte. Liam wusste, ohne Risiko gab es auch keinen Gewinn. Wenn er wieder einmal sein Geld in den Sand setzte, dann versuchte er mit Ausreden sein schlechtes Gewissen zu besänftigen, obwohl es teilweise stärker an ihm nagte, als er es zugegeben hätte. Doch aufgeben kam für ihn nicht in Frage. Er war schon immer ein sturer Bock gewesen, wenn es darum ging, ein Ziel zu erreichen. Zumindest wenn das Ziel in einer gewissen Reichweite lag, oder er wenigstens daran glaubte. Er wollte sich aus seiner finanziellen Situation befreien, denn dies war seiner Meinung nach auch der Grund für das Scheitern seiner Beziehung. Er erinnerte sich an einen Satz, den seine Frau beim Abholen seines Sohnes einmal gesagt hatte. Sie würde am liebsten auswandern. Irgendwo in den Süden. Er fragte sie, ob sie mit ihm auswandern würde. Als sie bejahte, wusste er, dass er sie mit der Erfüllung dieses Wunsches zurückgewinnen könnte. Auch wenn es völlig absurd klang.

      Mittlerweile hatte er sich eine Fertigpizza gegönnt und sich in die Welten des Tradings vertieft. Artikel um Artikel hatte er darüber gelesen. Je mehr er las, desto verwirrter schien er. Das Thema war ihm einfach zu abstrakt und er blickte nicht durch. So viele Informationen und Theorien, die er nicht verarbeiten oder denen er nicht folgen konnte. Er zweifelte an seiner Intelligenz und an seinem Verstand. Es war wie ein riesiges Puzzle, mit tausenden von Teilen, die wild verstreut auf dem Fussboden herum lagen und erst einmal sortiert werden mussten. Wie gerne hätte er diese eine Blitzidee gehabt und wäre damit reich geworden. Für immer befreit von seinen Schulden, welche sich über die Jahre mit seiner Ehefrau aufgebaut hatten. Er hätte sich ein Haus in Florida gekauft und wäre mit seiner Frau und seinem Sohn dorthin ausgewandert, um alle Sorgen hinter sich zu lassen und nochmals von vorne zu beginnen. Einen Neustart mit vielen neuen, schönen Erlebnissen, die sie erwartet hätten. Er hätte so vieles anders gemacht und seine letzte Chance voll genutzt. Ihr gezeigt, dass er doch zu mehr imstande war, als bloss in der Wohnung herum zu hängen und die Beine hochzulagern. Denn das war es, was er in den letzten Monaten ihrer Beziehung tat. Er hatte keine Kraft mehr. Keinen Willen mehr verspürt, etwas an seinem Dasein zu verändern. Die Kontrolle lag in den Händen seiner Frau und er war nur noch der stille Anwesende. Sie wollte ihm mehrmals klar machen, dass er an Depressionen litt, doch er ignorierte sie, weil er nicht wusste, wie er sich helfen sollte. Nun waren es diese Gedanken, die ihn antrieben sein Ziel zu erreichen. Doch es waren alles nur blasse Träume. Ein Blick aus dem Fenster genügte und er wurde zurück in die traurige Realität geholt. In diesen kalten, verregneten und stürmischen Novemberabend. Er beobachtete eine vorbeifliegende Plastiktüte, die beinahe auf seiner Terrasse zwischengelandet wäre, bevor sie der Wind im letzten Moment weiter trug. Sein Blick wanderte durch die Wohnung. Er lauschte der Stille im Esszimmer und hörte das Pfeifen des Windes durch die Ritze des Fensters. Auf einmal verspürte er Durst von der Pizza. Das Öl wirkte wie Feuer in seiner Kehle, das dringend gelöscht werden musste. Sein Blick wanderte über den Esstisch und suchte verzweifelt nach der Flasche Eistee. Sie hatte bloss noch einen letzten Schluck übrig. Als er die Flaschenöffnung an den Mund ansetzte und den letzten Schluck genüsslich in den Rachen kippte, sah er bereits den Plastikboden. Danach stand er auf und warf die leere Flasche in eine Plastiktüte, in welchem sich weitere leere Flaschen befanden. Er bezeichnete sich zwar nicht als Umweltschützer, doch die Flaschen trennte er vom übrigen Müll. Das hatte er von