„Der Text scheint nicht vollständig“, sagte Cornouailles leise zu ihm, “ denn im Original.....“
Chaulliac hob die Hand und gebot dem Herzog zu schweigen. „Der Text ist vollständig. Sie haben auch den Fluch übersetzt, Ambrosius. Doch er steht nicht auf der ersten Seite, wie im Original der Handschrift. Bernard hat ihn auf die Rückseite des Deckblattes geschrieben und dort auch jene seltsame Miniatur eingefügt, die ich zuvor erwähnt habe. Was allerdings Abraham Eleazars Erklärungen über die Herkunft des niedergelegten Wissens und den wahren Zweck des großen Werkes angeht; das steht nirgendwo. Ich hatte den Eindruck, dass diejenigen, die hinter dieser Übersetzung steckten, beschlossen hatten, man könne denjenigen, denen dieser Text ursprünglich zugedacht worden war, nicht die volle Wahrheit über den Fund von Hugues de Payns und seiner acht Gefährten unter den Ställen Salomons im alten Tempel von Jerusalem anvertrauen. Wenn ich mich richtig entsinne: Molay sagt dazu Garnichts in seinem Testament... oder vielleicht wusste er es auch einfach nicht.“
„Und Flamel“, fragte Ambrosius ein wenig misstrauisch. In seiner Stimme spiegelte sich Sorge und gespannte Erwartung wieder.
Chaulliac schüttelte den Kopf und lächelte. “Meister Flamel ist ein weiser, alter Mann. Auch ohne die Erklärungen, die im aramäischen Original stehen, ist er dem wahren Geheimnis der Handschrift des Abraham Eleazar mit den Jahren auf die Spur gekommen.“
Der Herzog hob leicht eine dünne, hochgeschwungene Augenbraue und fixierte seinen Freund. „Und...“, ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, doch dieses Lächeln hatte nichts Freundliches. Es erinnerte mehr an den Ausdruck auf dem Gesicht einer Katze, die sich anschickte einen Sprung zu wagen, um ihre Beute zu schlagen.
„Als Meister Flamel begriff, was sich wirklich hinter dem Grimoarium versteckte –abgesehen von der ganzen Goldmacherei und Reichtum ohne Ende und Blablabla – da ist ihm angst und bange geworden. Er sagt, dass er den weißen Stein wieder zerstört und seine Splitter in alle Himmelsrichtungen zerstreut hat. Und alles Blei, das er mithilfe des Steines in Gold verwandeln konnte ist bis zur letzten Unze in seine gottgefälligen Werke geflossen. Er hat nicht einmal ein einziges Körnchen davon behalten, um es für eigennützige Zwecke zu verwenden.“
„Gut“, erwiderte Ambrosius. „Dieses Geständnis des Notarius dürfte uns beiden die Entscheidung wesentlich leichter machen. Du glaubst dem alten Mann? Nicht wahr, Guy?“
Der Okzitanier überlegte einen Augenblick. Als er an die eiskalten, harten und leblosen Augen des dunklen Wächters von Barc'h Hé Lan zurückdachte, nickte er nur stumm.
VIII
Maeliennyd blinzelte heftig und schüttelte sich. Sie musste sich bei ihrem Spaziergang hinunter zum See mehr angestrengt haben, als sie geglaubt hatte. Oder sie hatte einfach zu viele Dinge durcheinander in sich hineingestopft, wogegen ihr Magen jetzt rebellierte, genauso, wie Aodrén es am See prophezeit hatte. Sie spürte wieder dieses dumpfe, unangenehme Ziehen in der Leiste. Im Reflex legten sich ihre Hände beschützend über den gewölbten Leib, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass dieser kurze Schmerz unmöglich mit dem Kleinen in Zusammenhang stehen konnte. Noch mindestens zwei volle Monate trennten sie vom Augenblick der Geburt. Seit der Wintersonnwende wusste sie sicher, dass sie wieder schwanger war. Sie hatte das Kind vermutlich in der Zeit um Samhain empfangen. Maeliennyd atmete tief durch, presste die Hände fester auf den Leib und versuchte den dumpfen Schmerz zu verdrängen, der sich immer unnachgiebiger in ihrem Unterleib aufbaute. Kurz betrachtete sie die beinahe leere Schale und schalt sich zum zweiten Mal an diesem Tag eine Närrin. Selbst ihren beiden Söhnen Aorélian und Glaoda würde es speiübel werden, wenn sie zuerst geräucherten Aal und hinterher Zuckerbrot und kandierte Veilchen in sich hineinstopften. Die Herzogin zwang sich so langsam und so gelassen wie möglich zu atmen und ihre Gedanken auf etwas anderes zu richten, als auf dieses kleine Wesen, das in ihr heranwuchs. Doch es wollte nicht gelingen. Das dumpfe Pochen schien sich zu verwandeln. Sie spürte, wie ihr gewölbter Leib unter dem krampfhaften Druck der Hände nachgab und sich plötzlich senkte. Furcht stieg in Maeliennyd Glyn Dwyr auf; eine nackte, kalte, eisige Angst. Wie ein Kaninchen, die Schlange anstarrte, richtete sie ihre Augen auf den Kamin, in dem noch die erbärmlichen letzten Reste eines alten Feuers lagen. Es war keine Sinnestäuschung. Sie bemerkte, wie in der kalten Asche winzige, hellblaue Flammen zum Leben erwachten. Der Schmerz in ihrem Leib nahm zu und mit jedem dumpfen Stechen wuchsen die Flammen, bis sie sich schließlich zu einem deutlichen, klaren Bild verwoben.
IX
Nachdem die beiden Männer ihren Beschluss gefasst hatten, beschrieb Chaulliac noch kurz Bernards Miniatur, so wie er sie im Gedächtnis behalten hatte: Ein Mann in einem sonderbar zeremoniell anmutenden Gewand steht auf einem Quaderstein. In der Rechten hält er eine Phiole aus Glas, in deren Inneren eine Schlange sich in den Schwanz beißt. Aus dem Hals der Phiole entspringen drei Blumen. Zur Linken des Mannes erhebt sich ein Berg, auf dessen Rücken allerlei Bäume und Pflanzen wachsen. Am Fuß des Berges erkennt man zwei Höhlen. Während ein Tier in die eine Höhle hineinläuft, entspringt der anderen Höhle ein Fluss, der unter dem auf dem Quaderstein stehenden Mann hindurchfließt, um in eine weitere Höhle zu verschwinden, die man am Fuß eines kleinen Hügels im Vordergrund entdecken kann. Auf diesem Hügel wachsen drei Rebstöcke mit saftigen Trauben. Zur Rechten des Mannes, etwas in den Hintergrund versetzt, erkennt man noch einen kreisrunden Turm, auf dessen Spitze sich ein gleichschenkliges Kreuz in einem Kreis befindet.
Ambrosius de Cornouailles hob die Schultern, als der Okzitanier zu Ende war. „Das macht keinen Sinn, Guy“, sagte der Herzog frustriert. „Er war gewiss keiner von uns, der sich abgewandt und sein Gelübde verraten hat. Und soweit ich weiß, war er auch keiner, den die Bruderschaft damals mit irgendeinem Auftrag bei den reformierten Benediktinern von Robert de Molèsme eingeschleust hätte.“
„Er vielleicht nicht, Ambrosius. Aber Du darfst Maol Maodhoogua Morguair nicht vergessen. Der heilige Malachias war ein Culdée aus Irland. Maol Morguair hat seine Rolle so ausgezeichnet gespielt, dass er nicht einmal ein Jahr brauchte, um es in Bangor zum Abt zu bringen. Im folgenden Jahr war er schon Bischof von Connor und acht Jahre später bereits Erzbischof von Armagh, .eine Funktion, die er –wie Du weißt- lange Zeit mit der des Primas von Irland und schließlich sogar mit der des Legaten des Heiligen Stuhls in Irland kumulierte. Maol Morguair war – wenn ich mich so ausdrücken darf – der bislang größte Erfolg der weißen Bruderschaft, die christliche Kirche tiefgehend zu unterwandern. Er ist in Cîteaux gestorben. Eine tiefe Freundschaft verband Maol und Bernard. Sie tauschten regelmäßig Briefe aus und ich bin mir sicher, dass das alte Schlitzohr aus Armagh es bei ihren persönlichen Treffen nicht dabei belassen hat, hochgelehrte Gespräche mit unserem begabten Übersetzer zu führen oder ihn bei einem Becher Wein mit Anekdoten aus seiner Zeit bei den heidnischen Götzendienern zu amüsieren. Die Zisterzienser sind nicht alleine Bernards Erfindung. Vieles in ihren Regeln erinnert an die von Comgall, dem Gründungsabt von Bangor; Regeln, die Maol wieder einführte, nachdem sein Vorgänger Oengus Ua Gorman das ganze Kloster in einen wüsten Schweinestall verwandelt hatte. Und Du weißt so gut wie ich, wer Comgall wirklich war, woher er stammte und von wem er die Regeln für Bangor abgekupfert hat. Nicht einmal Du kannst leugnen, dass Bernard aus den reformierten, aber immer noch schwarzen Benediktinern von Bernard de Molèsme wieder Weiße Brüder gemacht hat.“
Ambrosius seufzte. Ein leiser Anflug von Trauer legte sich über seine Augen, doch er hatte nicht das Herz sich mit Guy um einer Grundsatzfrage Willen genauso zu zerstreiten, wie sich einst dessen Großvater und Aodrén zerstritten hatten. Die Weiße Brüder von Bernard de Clairvaux, die Zisterzienser, hatten mit den Weiße Brüdern von Brocéliande oder mit denen vom Berg Mézenec im Velay in ungefähr so viel gemein, wie der bildschöne Hengst, den er von seiner letzten Reise aus Al Andalus mitgebracht hatte mit den stämmigen bretonischen Arbeitspferde, die seine Bauern