Das Lateinische hatte mit der zunehmenden Christianisierung langsam aber bestimmt den Gebrauch der griechischen Sprache in den Wissenschaften verdrängt. Sogar die Drouiz hatten dies letztendlich akzeptiert, obwohl viele der Älteren immer noch vorzogen, das Wenige was sie schriftlich niederlegten, auf Griechisch zu verfassen.
„Wenn man nun aber die Auszüge von Papaver Somniferum, die die Araber allgemein „abu en nom“, den Vater des Schlafes nennen mit Alraunen- Bilsenkraut- und Schierlingssaft vermischt und einen ganz gewöhnlichen Schwamm voll saugen lässt, dann kann man diesen hinterher in der Sonne trocknen und ganz einfach mit sich führen. Wenn er dann verwendet werden soll, lege man diesen „spongium somniferum“ in eine Schüssel mit ein wenig warmem Wasser. Nach Beendigung einer Operation kann man durch erneutes Trocknen, den Schlafschwamm wieder in seine einfach zu transportierende Ausgangsform zurückverwandeln“, der junge Mann verbarg nach Abschluss seiner Erklärung seinen Stolz nicht mehr. Auf seinem Gesicht lag ein ausgesprochen selbstzufriedenes Lächeln.
Die Weisen, die um die Drouiz, die Sévran befragten versammelt saßen nickten alle anerkennend. Auch Maod’ana und Berc’hed gaben Konogan Zeichen, das er seine Prüfung nun beenden könne, denn Sévran hatte ausreichend bewiesen, dass er sich nach elfjährigem Studium das Recht auf den Titel eines Anruth erarbeitet hatte und sich endlich auf die letzte und schwierigste Etappe seines Weges begeben konnte. Tugdual winkte ihn heran.
Sévran atmete auf. Die Sonne wärmte angenehm seine nackte Haut. Die rostbraune Robe lag ordentlich zusammengefaltet vor ihm auf dem Boden und er hielt einen langen Stab aus hartem, glänzendem Eibenholz in der Rechten. Noch schmückten den Stab keine Zierden aus Silber und kein Kristall thronte auf seiner Spitze und der dunkelblaue Pflanzensaft, mit dem Hegareg die Konturen eines Triskel auf seine Brust gezeichnet hatte war noch feucht. Aber trotzdem: Es war beinahe zu Ende. Er würde sich bis zum Einbruch der Nacht ausruhen dürfen. Er hatte Hunger und war schrecklich durstig.
II
Nach dem Abendessen kehrten Jean de Craon und Gilles noch einmal in das Laboratorium des alten Mannes in den Gewölben von Champtocé zurück. Der Ritter aus Anjou, der seit einigen Wochen ihre Gastfreundschaft genoss, hatte diesen Teil der Festung noch nicht betreten. Er war in einem Gemach im Turm untergebracht. Der Raum war gut eingerichtet: ein großes, bequemes Bett, ein Schreibtisch, Stühle, eine Truhe, eine kleine Bibliothek mit interessanten Handschriften aus der reichen Sammlung von de Craon.
Nach seiner beschwerlichen Reise von Paris bis an die Ufer der Loire und den vorausgehenden Entbehrungen während der Kriegshandlungen und der anschließenden Belagerung der Hauptstadt, war der Mann nicht in einer Verfassung gewesen, sofort die vereinbarten Forschungsarbeiten aufzunehmen. Er hatte Dankbarkeit gezeigt, als de Craon ihm vorschlug, erst einmal wieder zu Kräften zu kommen.
Sorgfältig verschloss Gilles die schwere Eichenholztür, während sein Großvater drei Kerzen an einem großen Schreibtisch entzündete. Das Buch des Alchemisten lag dort aufgeschlagen. Sie hatten ohne größere Schwierigkeiten die meisten Anweisungen lesen können, die Abraham Eleazar der Jude für seine in alle Winde zerstreut lebenden Brüder und Schwestern damals niedergelegt hatte, um ihnen zu helfen, die Steuerlast zu ertragen, die die weltlichen Herrscher ihnen aufbürdeten. Erstaunlicherweise hatte der Leviterfürst und Priester für sein Werk die klassische, lateinische Sprache ausgewählt, wohl wissend, dass viele Israeliten im Exil der hebräischen Sprache kaum noch mächtig waren. Doch damit hatten Jean und Gilles das Rätsel um Nicolas Flamel und seinen unglaublichen Reichtum natürlich noch lange nicht gelöst.
„Großvater, habt Ihr damals während der Ermittlungen, als Ihr noch im Dienste von Staatsrat Cramoisi gestanden habt nicht vielleicht doch irgendein Detail übersehen...oder im Verlauf von drei Jahrzehnten einfach vergessen“, der junge Laval besaß einen außergewöhnlich scharfen Verstand. Seine Ausbildung war vom ersten Tag an, als Jean de Craon das Kind seiner ältesten Tochter nach Champtocé geholt hatte vom Besten gewesen: Gilles sprach und schrieb die lateinische und die griechische Sprache. Er hatte Mathematik und Astronomie studiert und sämtliche bedeutenden philosophischen Werke gelesen, die auf dem Markt für gutes Gold erworben werden konnten. Jean selbst hatte ihn nicht nur in der Schwarzen Kunst unterwiesen, sondern ihn auch die Ars Alchimia und das Sternedeuten gelehrt. Natürlich war Gilles' Unterweisung im Waffenhandwerk immer an erster und wichtigster Stelle gestanden, doch der Junge war begabt und ausgesprochen wissbegierig. Das Lernen fiel ihm leicht.
Der alte Mann zog sich einen Stuhl an den Tisch und bedeutete auch seinem Enkel sich zu ihm zu setzen. Seine Rechte strich Gilles liebevoll über die dunkelbraunen Locken und de Craons hellgraue Augen, die ür gewöhnlich kalt und hart blitzten, wurden für einen kurzen Augenblick weich und zärtlich: „Wir haben den Fall Flamel lange untersucht, mein lieber Junge. Ich befürchte, weder de Cramoisi noch ich selbst haben damals irgendetwas übersehen. Es war ein persönlicher Befehl des Königs gewesen, diese Untersuchung durchzuführen. In jenen Tagen, als Charles noch klar im Kopf war, konnte sich niemand Fehler leisten, nicht einmal de Cramoisi.“
In der Tat waren de Craons Erinnerungen an dieses Schlüsseljahr 1389 so klar und so präzise, als ob sich das Ganze erst gestern abgespielt hätte: Er war fünfunddreißig Jahre alt gewesen, energisch, ehrgeizig und gerissen. Sein Interesse an den geheimen Künsten und an der Ars Alchimia hatte die Aufmerksamkeit des Staatsrates de Cramoisi auf ihn gelenkt, obwohl er nur ein einfacher und unbedeutender Landedelmann von der Loire gewesen war. Dazu war es gekommen, weil der Notarius der Sorbonne Nicolas Flamel, von dem man hinter vorgehaltener Hand munkelte, er besitze ein Zauberbuch und studiere die Alchemie, sozusagen über Nacht angefangen hatte, für Unmengen von gutem Gold Spitäler, Armenhäuser und Kapellen in Paris und in der Hafenstadt Boulogne zu stiften. Zuvor war der Mann zu einer Pilgerfahrt nach Santiago de Compostella aufgebrochen und beinahe zwei Jahre vom Erdboden verschwunden gewesen. Viele andere Männer, die als Alchemisten auf der Suche nach dem Lapis Philosophorum waren, hatten diese Pilgerfahrt gleichfalls unternommen, doch keiner von ihnen war je zurückgekehrt und hatte plötzlich so viel Gold besessen, wie der Notarius des Collegium Sorbonianum. Und niemand hatte je aus Flamels Mund erfahren, was er auf seiner Reise nach Galizien erlebt, oder wen er getroffen hatte. Auch Jean de Craon nicht. Aber dank seines ausgeprägten Spürsinnes und einer großen Gabe komplizierte Intrigen zu spinnen, ohne dabei ertappt zu werden, war er ihm es schließlich doch gelungen, alles herauszufinden..im Verlauf der langen Jahre, die der Untersuchung durch den Staatsrat de Cramoisi gefolgt waren. Er hatte Paris und dem Hof den Rücken gekehrt, um mit seinen eigenen Nachforschungen kein Aufsehen zu erregen. Auf dem Weg, den er eingeschlagen hatte, um das Geheimnis von Nicolas Flamel zu ergründen, war er durch alle Ebenen der geheimen Kunst gewandert. Er hatte dabei unendlich viel gelernt…und schmerzliche Erfahrungen gemacht, die er seinem Enkel ersparen wollte.
„Damals“, fuhr er für Gilles mit seiner Erzählung fort, „mussten wir die Ermittlungen einstellen, denn wir konnten ihm nichts nachweisen. Flamel war nach außen hin ein ganz ehrlicher, gottesfürchtiger Mann. Sein Skriptorium lief höchst profitabel und das Stiften von Spitälern, Armenhäusern und Kapellen wurde nicht einmal von den misstrauischen Pfaffen als ein Verbrechen angesehen. Dazu kam noch: Flamels Lebenswandel und der von Dame Perenelle, seiner Gemahlin -die reiche Erbin eines bedeutenden Zunftmeisters - waren unauffällig.“
Gilles hing an den Lippen seines Großvaters. Sie hatten immer schon viel zusammen gearbeitet und experimentiert. Die Ars Alchimia als solche faszinierte ihn, obwohl er diese exakte Kunst, die ihn irgendwie an die Arbeit eines Apothekers erinnerte, oftmals als zu anstrengend und zu zeitaufwendig abtat. Er hatte immer gerne in den Werken geblättert, die sein Großvater