Noch bevor die Glocken läuteten, hatten die Knechte das Vieh versorgt. Nach der Kirche würde Armin die Schafe wieder auf die Wiesen treiben. Er ging gerne in die Kirche, denn hier fand er von all der Plackerei ein wenig Ruhe, wenn auch nur für kurze Zeit.
Die kleine Glocke, der alte Fiete hatte sie gespendet, läutete die Bauern, Knechte und Gesinde zum Gottesdienst. Und während die Leute in das kleine Gotteshaus zogen, bemerkte Armin wieder die Bettler und Armen. Manche hatten durch Unfälle Gliedmaßen oder gar ein Auge verloren, manche humpelten und zogen ein Bein nach. Vielleicht war auch der eine oder andere darunter, der sein Gebrechen besonders zur Schau stellte, um die Möglichkeit ein Almosen zu erlangen, zu erhöhen. Der alte Fiete gab nie etwas. Er spendete lieber direkt für die Kirchen.
Ute allerdings hatte ein weiches Herz. Sie hatte, versteckt vor den Augen ihres Herrn, immer ein paar kleine Brotkanten bei sich, die sie den Bettlern als Almosen gab. Geld hatte sie nur wenig. Aber als Küchenmagd hatte sie einen genauen Überblick über die Speisen und konnte geschickt und unbemerkt das eine oder andere unter ihren Umhang stecken, wenn es zur Kirche ging.
Die Ruhe und Erholung in der Kirche taten Armin gut. Er musste achtgeben, nicht einzuschlafen. Auch wenn er den Geistlichen und auch die Kirche achtete, die Müdigkeit kam häufig wie eine schwere Bürde, die auf seine Augenlider drückte.
„Schlaf nicht ein“, zischte Ute und knuffte Armin in die Seite.
„Entschuldigung“, flüsterte Armin und versuchte, wieder den Worten des Geistlichen zu folgen. Der alte Fiete hatte von all dem nichts bemerkt. Er saß stets vorne, wo er seinem Ansehen noch mehr Ausdruck verleihen konnte.
Als der Gottesdienst beendet war, strömten die Kirchgänger aus der kleinen Kapelle. Der Priester gab jedem die Hand und die Bewohner zerstreuten sich. Es wurden Almosen für die Armen und die Bettler verteilt, die sich rege bedankten. Wie immer ließ Ute den alten Fiete vorausgehen, damit sie ihre mitgebrachten Gaben unbemerkt geben konnte. Armin half ihr dabei. Sie steckte ihm dazu unbemerkt im Gottesdienst das eine oder andere zu.
„Bitte, hast du eine milde Gabe? Gott wird es dir vergelten.“
Vorsichtig gab Armin der alten Frau ein Stück Brot.
Ein anderer Bettler, eingehüllt in einen Lumpenumhang, mit wilden Haaren, einem schmutzigen Tuch um den Kopf und ein Auge gebunden, humpelte auf einen Stock gestützt näher. Armin hatte ihn schon öfter beim Gottesdienst bemerkt. Er war wahrlich nicht zu beneiden, denn offensichtlich hatte er eine schwere Beinverletzung und wahrscheinlich sogar ein Auge verloren. Arbeiten konnte er so nicht mehr und Angehörige, die sich um ihn kümmern konnten, hatte er offenbar auch nicht.
„Hast du etwas Brot oder einen Pfennig, damit ich mir zu essen kaufen kann?“, stammelte er mit tiefer Stimme. Armin schaute schnell um sich. Der alte Fiete sprach mit jemandem, und so gab Armin dem Bettler sein letztes Stück Brot.
„Die Habenichtse vor der Kirche können einem wirklich Leid tun“, sagte Armin am Abend vor der Nachtruhe.
„Ja, es ist bedauerlich“, raunte Ute, denn Sven und auch Peer wussten nichts von den Almosen und sollten auch nichts erfahren. „Auch wenn es nur wenig ist, aber der Wille zählt, Armin. Mehr können wir ihnen nicht geben, denn mehr haben wir nicht. Wem hast du heute gegeben?“ Sie fragte leise, damit sie nicht gehört wurden.
„Einer alten Frau und dem humpelnden Alten mit dem Kopfverband.“
„Ja stimmt, der ist auch immer da. Gut, dass du ihm gibst, ich komme immer nur zu dem Mädchen mit den Krücken und zu dem verstümmelten Alten.“
Der Frühling war kurz in diesem Jahr. Nach der stürmischen Nacht mit Gewitter hatte es tatsächlich noch einmal Frost gegeben. Es hatte sogar noch einmal geschneit, wenn auch der Schnee nicht liegen blieb. Armin hatte Glück, denn er musste nicht in die Torfgruben. Dafür musste er sich um die Schafe kümmern und bei der Aussaat helfen.
Auch diese kühle Zeit ging vorüber und der Sommer kam mit aller Pracht.
Nach der Schafskälte wurden die Schafe endlich geschoren. Und obwohl Armin Übung hatte, war es immer wieder schwer. Besonders beim Scheren der Böcke mussten die Knechte zu zweit anpacken. Einige Tiere wurden geschlachtet, weil sie alt waren und den folgenden Winter nicht überstanden hätten.
Die Wolle wurde zu Ballen geschnürt und in der Loodiele trocken gelagert. Die Felle wurden gegerbt und ebenfalls auf der Loodiele zum Trocknen gespannt.
Eines Morgens ließ der alte Fiete die Knechte zusammenkommen. Auch Ansgar und ein paar andere Arbeiter aus den Torfgruben waren gekommen.
„So, morgen ist es so weit“, sagte er alte Fiete, als er sicher war, dass alle ihm zuhörten. „Wir werden morgen nach Bouchstadhude ziehen und die Wolle und den Torf verkaufen. Martin, du ziehst die Wagen zusammen. Peer, Sven und Armin, ihr spannt die Ochsen an. Ansgar, du nimmst die Karren mit ins Moor und sorgst dafür, dass der Torf auf die Wagen geladen wird. Peer, Sven und Armin, wenn die Wagen angespannt sind, dann macht ihr euch in der Loodiele zu schaffen und verladet die Wollballen auf die restlichen zwei Wagen in der Scheune. Haltet euch ran. Wenn Martin mit den anderen Wagen kommt, fahrt ihr die Wagen ebenfalls ins Moor und verladet den Torf. Vor Sonnenuntergang will ich die Wagen wieder hier haben. Und wenn ihr nicht bis Sonnenuntergang zurück seid, zieht ihr die Wagen morgen alleine nach Bouchstadhude. Ich hoffe ihr habt das verstanden. Und jetzt haltet nicht Maulaffen feil und packt an!“
Während Armin, Peer und Sven die Ochsen vor den Karren spannten, sattelte Martin das Pferd und ritt los, um aus umliegenden Dörfern Wagen und Pferde von Bauern zu holen, die dem alten Fiete Geld schuldeten.
Ansgar fuhr mit den zwei Ochsenkarren ins Moor und Armin, Peer und Sven begannen, die Wolle und Felle von der Loodiele auf die übrigen zwei Wagen zu laden.
Kurz vor Mittag kam Martin mit zwei Karren zurück. „Peer, wie lange braucht ihr noch?“
„Wir sind fast fertig.“
„Beeilt euch ein bisschen. Tränkt dann die Pferde noch einmal und fahrt dann raus ins Moor. Wo ist mein Vater?“
„Er ist oben in der Schreibstube.“
Martin nickte und verschwand im Haus.
„Sven, wie viel ist es noch?“
„Noch zehn Ballen.“
„Gut. Macht hin. Wir müssen noch die Pferde tränken und dann ins Moor.“
Nach einer Weile kam Martin in die Loodiele geschlendert. In der linken Hand spielte er mit einem kleinen Säckchen. Armin postierte gerade einen Ballen an der Luke und stieß ihn nach draußen.
„So, seid ihr bald fertig?“, wollte Martin wissen und trat näher an Armin heran. Der beachtete ihn nicht und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Hast du das schon mal gesehen?“, fragte Martin leicht hämisch und öffnete den Beutel.
„MARTIN!!“ Der alte Fiete stand fluchend in der Tür zur Kammer. „Komm sofort hierher!“
Martin zuckte zusammen und gehorchte. Fiete blitzte seinen Sohn voller Zorn und Strenge an, riss ihm den Beutel aus der Hand, warf einen kurzen Blick hinein und schloss ihn wieder. Dann packte er Martin am Schlafittchen und sprach mit leiser aber sehr eindringlicher Stimme.
„Wage es nicht noch einmal, diesen Beutel zu nehmen. Ist das klar?“
Martin nickte schuldbewusst.
„Was war in dem Beutel?“, fragte Sven leise.
„Weiß nicht, ich konnte nichts sehen“, log Armin. Er hatte sehr kurz einen Blick in den Beutel werfen können. Vier kleine goldfarbene Steine waren darin gewesen, aber er hielt es für besser, nicht davon zu sprechen.
Am frühen Morgen zog der kleine Tross gen Bouchstadhude. Sie waren mehrere Tage unterwegs, denn die Karren waren schwer und die Ochsen nicht die schnellsten. Abends quartierte sich der alte Fiete in dem einen