So schwebte ich in einer Metaebene über dem Geschehen, beobachtete und registrierte.
Ich sah zu, wie die Masse sich langsam vor dem Schlagbaum nach hinten hin aufstaute. Wie sich aus anfänglichem Zögern Mut erhob. Wie aus diesem Mut, Frust und Wut über altgewohnte Starrköpfigkeit wuchs. Und doch blieb es weiter friedlich. Ein Wunder und Sieg der Menschlichkeit. Hunderte standen vor einer Handvoll. Nichts wäre leichter gewesen, als sich seiner Wut hinzugeben und sie zu überrennen. Was Leben gekostet hätte, hüben wie drüben, egal. Stattdessen wurde gesungen, skandiert und diskutiert, bis der Staudruck übermächtig wurde und der Durchbruch gelang. Die Massen kamen wieder in Bewegung. Zuerst nur langsam, einzeln flutschten sie durch die erste Spalte, die sich ergab. Und dann immer mehr und immer schneller, bis sich der Pfropfen schließlich ganz löste und die Bornholmer Straße sich mit einem langen, riesigen Schwall entleerte. Von drüben waren Gesang, Jubel und Böller zu hören, und ich stand mit offenem Mund auf dem Trabant und suchte die Szene zu fassen. Es gab nicht mehr viel, was mich sprachlos machen konnte, dieser Moment aber überwältigte mich sogar in meinem desolaten Zustand so sehr, dass sich ein riesiges Vakuum in mir ausbreitete. Bis jemand an meinem Hosenbein zupfte und zu mir sprach:
„Ist das Ihr Auto?“
Ich schaute runter und sah einen Mann in grauer Hose mit leichtem Schlag. Grünem Rollkragenpulli und braunem Mantel darüber. Er trug eine dicke Hornbrille, hatte lange Koteletten, einen Schnäuzer, schütteres Haar, welches er sich von links nach rechts über die Platte gekämmt hatte und sah mich herausfordernd von unten an.
„Wer will das wissen?“, fragte ich ihn.
„Kommen Sie sofort da runter.“
Ich tat wie mir geheißen. Rutschte dabei von einem Kotflügel ab und klatschte vor ihm auf die Straße. Rappelte mich wieder auf, spürte aber keinen Schmerz.
„Fahren Sie bitte weiter, Sie können hier nicht stehen bleiben.“
Ich sah mich um. Autos fuhren an mir vorbei und hupten, was mir bis dahin gar nicht aufgefallen war.
„Nun ja, würde ich ja gerne, ist aber nicht mein Auto und außerdem bin ich viel zu betrunken zum Fahren.“
„Nicht Ihr Auto, wie?“
„Nein, mein Herr.“
Er schaute an mir vorbei und betrachtete den Wagen.
„Sie haben das Dach verbeult und, wie mir scheint, auch die Motorhaube.“
Ich drehte mich um und sah prüfend auf das Dach.
„Glauben Sie? Sieht doch halb so wild aus.“
„Folgen Sie mir bitte!“
„Ach hören Sie schon auf“, erwiderte ich, „offensichtlich ist dem Besitzer der Wagen nicht so wichtig, sonst hätte er ihn ja nicht einfach so hier stehen lassen, und an solch einem Tag …“, ich zeigte in Richtung Brücke, „… wen interessieren da ein paar Beulen? Hier wird gerade Geschichte geschrieben und wir sind mittendrin. Davon können Sie Ihren Enkeln einmal erzählen. Genießen Sie das Spektakel.“
„Folgen Sie mir!“, wiederholte er.
Stattdessen zog ich meinen Ausweis und schwankte nach Hause.
10. November 1989
Heute wird es enden, dachte er. Nach so vielen Jahren wird es tatsächlich heute Nacht enden, so oder so.
Seine Hand entspannte sich für einen kurzen Moment und der Griff ums Messer löste sich leicht, doch nur um gleich danach umso fester wieder zuzupacken.
Er hielt sich das Messer eng an seine Brust gepresst.
Er musste seine Nähe spüren.
Er brauchte gerade ein wenig Halt.
Viel zu früh war er da gewesen und bereute dies nun.
Zweifel krochen in ihm hoch wie eine verdammte Schmarotzerranke an einem alten Baum.
So viel Zeit war vergangen, seit alles begonnen hatte. So viel Zeit, dass er schon fast gelernt hatte, damit zu leben. Doch dann ging plötzlich alles ganz schnell. Gestern war er noch einsam und unsichtbar eine Million Lichtjahre von seiner Vergangenheit entfernt, um sich nun, einen Tag und einen Anruf später, mitten in ihr wiederzufinden.
Und er war so aufgeregt gewesen, dass er es nicht abwarten konnte und zu früh gekommen war, was er jetzt bereute. Zu viel Zeit zum Nachdenken.
Alles hatte er damals aufgegeben und war weggerannt. Es gab nichts mehr, was er hätte tun können. In diesem Land war er nicht nur von dicken Mauern aus Beton und hohen Zäunen aus Stahl umgeben gewesen, sondern auch in einem undurchdringlichen Geflecht von Korruption und Vertuschung gefangen.
Deshalb war er fortgelaufen, sonst hätte es ihn seinen Verstand gekostet. Hatte alles, was er noch liebte, aufgegeben und war an einem neuen Ort in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Und er hatte überlebt. Getragen von der Hoffnung auf Vergeltung überlebte er die Jahre. Doch die Zeit heilt nun einmal die Wunden, und der Wunsch nach Rache verblasste allmählich unter einer stetig wachsenden Kruste aus Normalität.
Dann kam der Anruf und die Kruste juckte wie ein Sack voll Krätze. Und er kratzte sie auf und all der Hass und die Verzweiflung quoll wieder hervor, wie stinkender Eiter. Blanke Wut packte ihn und trieb ihn zur Eile an.
So kam er unverzüglich hierher.
Ohne richtigen Plan. Ohne einen Moment innezuhalten, um einen klaren Gedanken daran zu fassen, was er tat und was dies für den Rest seines Lebens bedeuten würde. Keinen Gedanken daran, ob er das, was er vorhatte, tatsächlich wird ausführen können, denn Vergleichbares hatte er nie zuvor getan. Keinen Gedanken, bis eben.
Und ihm war kalt.
Seine Knie zitterten und seine Füße waren fast taub. Er presste die Nachtluft bibbernd in seine Lungen und wieder hinaus.
Er trat auf der Stelle leise von einem Fuß auf den anderen, bewegte seine Zehen in den Schuhen, um sie ein wenig warm zu halten, und er fürchtete, sich kaum mehr bewegen zu können, wenn es losging. Seine kalte Hand umschloss zwar noch die lange Klinge. Doch seine Kraft ließ langsam nach. Vielleicht hätte er doch eine Schusswaffe nehmen sollen, dachte er. Es wäre einfacher gewesen und schneller. Doch einfach wollte er es ja nicht, er wollte es von Angesicht zu Angesicht und er wollte es fühlen. Fühlen wie der Stahl in ihn dringen und der Hauch des Lebens aus ihm schwinden würde.
Er schüttelte sich. Schüttelte die zweifelnden Gedanken aus seinem Kopf und seine Gliedmaßen ein wenig warm.
Nein, es gab kein Zurück mehr. Kein Leben für ihn morgen, wenn er dies heute nicht zu Ende bringen würde.
Ja, es war ein Fehler gewesen, so früh zu kommen, aber er hatte unter keinen Umständen den Moment verpassen wollen. Er wollte ihn auskosten, solange es ging. Er wollte den Augenblick tief in sich spüren, endlich einmal wieder etwas spüren, und wenn es nur die Vorfreude auf den Tod war.
Wo blieb der verdammte Mistkerl nur, dachte er und schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk. Kurz nach 22 Uhr. Jetzt musste er gleich kommen, wer weiß, ob ihn seinerseits nicht schon ein Anwohner entdeckt hatte und beobachtete.